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Warum Silvester kein Knaller war …

Ich fand Silvester nicht von Anfang an blöd. Warum auch! Aus der Ferne wirkte er sogar eine Weile recht nett.
Selbst als ich ihn persönlich kennenlernte, entstand nicht augenblicklich eindeutige Antipathie.
Mit Abstand gesehen endete alles nicht einmal in einem kompletten Desaster. Aber ein Vierteldrama – nein, doch eher ein Semifiasko – war es schon …

Damals nach seiner Ankunft fielen schnell ein paar Dinge auf, die nicht passten. Nicht zu dem, was vorher in seinen Briefen gestanden hatte. Vieles hatte dort auch gar keine Erwähnung gefunden. Er hatte einige Charakterzüge geschickt unterschlagen, u. a. ausgelassen, dass er etwas – nennen wir es – launenhaft war.
Als sein Deutschlandaufenthalt später endete, er nach Südfrankreich zurückkehrte und einzig und allein überhebliches Genörgel abließ, kam ich zu der Feststellung, dass Silvester ein selbstgefälliger Heini war, der gar nicht merkte, wie ätzend anmaßend er sich verhielt. Sein letzter Brief war ausschlaggebend für meinen Entschluss, den Kontakt einschlafen zu lassen. Er schien ähnliche Absichten zu hegen, jedenfalls meldete er sich ebenfalls nicht mehr. Auf diese Weise ging es ziemlich flott. Kein sanftes Wegschlummern, eher ein Blitzschlaf/-koma. Eine Bekanntschaft, die eilends zu Grabe getragen wurde.

Falls ich es vergessen habe zu erwähnen, bei Silvester handelt es sich um einen französischen Brieffreund, den ich in jungen Jahren hatte. Silvester ist nicht sein kompletter Name, doch der Rest ist unwichtig. Die Abneigung hat absolut nichts damit zu tun, dass er Franzose ist!  Ich mag Franzosen, habe ja sogar selbst französische Vorfahren! Es ist einfach so, dass es solche merkwürdigen Fälle wie diesen überall gibt.

Wir hatten uns schon einige Monate locker geschrieben. Durch La Ratatouille hatte ich seine Adresse vermittelt bekommen. Hinter diesem Namen verbarg sich ein monatlicher Treff, eine Art privater Stammtisch, der damals für frankophile sowie französischstämmige Menschen in Hamburg existierte und dem ich eine geraume Weile angehörte. Silvester war zu dieser Zeit Koch in einem recht angesehenen Hotel mit gehobener Küche direkt an der französischen Mittelmeerküste und sollte in absehbarer Zeit für knapp drei Monate nach Hamburg in das Strandhotel nach Blankenese versetzt werden. Ein Austauschprogramm. Für ihn ging ein deutscher Kollege nach Frankreich.
Ich hatte zu Beginn angenommen, er wollte eine Brieffreundschaft, um bereits im Vorfeld seine Deutschkenntnisse zu verbessern. Mit diesem Hinweis hatte ich zumindest den Adresszettel zugesteckt bekommen. Aber nein, der Herr schrieb ausschließlich Französisch.
Gut, war der Lerneffekt halt mehr auf meiner Seite. Dachte ich!
Er hatte eine Schrift, die kaum zu entziffern war. Unter uns, eine Sauklaue, die ihresgleichen suchte! Dagegen schreiben Ärzte bildschön. Und ich fand, ihm unterliefen im Brief viele Fehler. Doch wer war ich, ihn darauf anzusprechen! Es war seine Muttersprache, wahrscheinlich irrte eher ich mich. Ich versuchte, daraus zu lernen – wenn ich an den Konstruktionen oder Schreibweisen nicht zu sehr zweifelte. Eigentlich wunderte ich mich ständig. Doch solange ich zumindest den Sinn verstand … Wenn mir etwas total unmöglich vorkam, schob ich es auf die Schrift und nahm an, wahrscheinlich würde ich die Buchstaben falsch erkennen.

Schließlich war es soweit. Silvester reiste an. Er hatte anfangs keine Zeit, was natürlich ist, wenn man gerade den neuen Job antritt.
Irgendwann stand das erste Treffen an. Sich zu verabreden gestaltete sich schwierig. Ich wohnte außerhalb Hamburgs und konnte nicht zu spät zurück. In der Region stellte der Bus seine Fahrten spätestens gegen 20 Uhr ein. Meine Briefbekanntschaft zog weiterhin hartnäckig einen seiner freien Abende vor. Irgendwie ließ es sich arrangieren, doch als nächstes stellte er sich bei der Wahl der Ziele quer. Es wurde kompliziert. Für ihn schien eigentlich alles schwierig. Irgendwo selbst hinzukommen, irgendeinen Termin einzuhalten, irgendetwas überhaupt akzeptabel zu finden. Nach mehreren Änderungen in letzter Minute, war ich fast so weit, entnervt aufzugeben. Auch meine Geduld ist nicht unerschöpflich. Als hätte er es gemerkt, kam es plötzlich zur Einigung.
Einfach so. (Hätte man nicht gleich …?)

Silvester sah anders aus als beschrieben. Nun, das machte nichts. Er war vom Wesen her anders, als es in den Briefen geklungen hatte. Vielleicht eine Fehleinschätzung meinerseits. Für alles konnte man Erklärungen finden. Merkwürdig war es dennoch. Was stimmte denn überhaupt? Oder hatte ich so viel missverstanden, missgedeutet?
Das Treffen war erwartungsgemäß nicht so der Kracher. Er tendierte zum Muffeln, und mir gingen nach und nach Gesprächsstoff und Vokabular aus, denn natürlich weigerte er sich weiterhin, Deutsch zu sprechen. Warum auch, ich verstand ihn ja …
Wenn er nicht gerade griesgrämig war, verhielt er sich selbstverliebt. Pries sich selbst an und wartete auf entzückte Bestätigung. Lob schien seine Laune sehr zu heben – doch dauerhaft hatte ich keine Lust zu diesen Elogen. Jedenfalls nicht zu den unangebrachten. Außerdem schlafe ich bei solchen den tollen Hecht mimenden Selbstdarstellern leicht ein. Alles in allem war ich daher vermutlich eine herbe Enttäuschung für ihn. Aber warum sollte es ihm besser ergehen als mir, gell?

Wir trafen uns dennoch ein weiteres Mal kurz vor seiner Heimreise nach Frankreich. Es verlief unspektakulär. Wohlweislich war ich mehr auf gestaltetes Programm ausgewesen, und wir besichtigten Sehenswertes in Hamburg, was er bis dahin noch gar nicht groß getan hatte. Er schlurfte etwas unmotiviert durch die Gegend, behauptete am Ende jedoch allen Ernstes, es hätte Spaß gemacht. Zu meiner grenzenlosen Verblüffung jammerte er obendrein, wie schade es wäre, dass wir uns nun nicht mehr würden sehen können.
Hatte ich etwas nicht mitbekommen?

Silvester kündigte Post an. Sobald er wieder am Mittelmeer eingetroffen wäre, würde er sich melden. Es kam nichts. Also schrieb ich nach einiger Zeit, um zu hören, ob bei ihm alles gut verlaufen war. Heimreise, Wiedereinstieg in seinem Hotel etc.
Einige Wochen später erhielt ich einen Brief von ihm.  Auf diesem recht kurz gehaltenen Schmierzettel beschwerte er sich hauptsächlich über Französischfehler, die ich in meinem letzten Schreiben gemacht hätte und erklärte, nach der Zeit, die ich mit ihm verbracht hätte, müsste ich doch eigentlich endlich fit in seiner Sprache sein. Da blieb mir die Spucke weg! Ausgerechnet er musste an Fehlern herummäkeln!
So ein blöder Armleuchter!
Tja, so schlief es ein. Ich holte mir aus Rache einen seiner alten Briefe und begann pedantisch – wie ein Lehrer bei der Diktat- und Aufsatzkorrektur – seine Fehler jetzt dick mit einem roten Stift anzustreichen. Rechtschreibung, Grammatik, Ausdruck. Jeden seiner dämlichen Fehler!
Noch einer! Und da! Schon wieder, meine Güte! Der lernt’s auch nicht …
Das tat irgendwie verdammt gut.
Danach war dieses Kapitel für mich abgehakt.

Nur einmal im Jahr … Können Sie verstehen, dass ich jedes Jahr am Silvestertag nicht unbedingt vorrangig an Jahresrückblicke, Alkohol, Böller, gute Vorsätze, Bleigießen etc., sondern meist zuerst an ihn, jenen Silvester, der absolut kein Knaller war, denke und in Erinnerung an die äußerst befriedigende Rotstiftaktion leise vor mich hin grinse?

Vielleicht löst Silvester auch bei Ihnen vom Üblichen leicht abweichende Assoziationen aus. Ruft die Melodie des alten Songs Zucker im Kaffee wach, lässt Sie an Rambo oder den Tweety jagenden Kater denken.
Egal welcher kleine Film in Ihrem Kopf abläuft, verbringen Sie auf jeden Fall einen schönen letzten Tag des Jahres 2014 und gleiten Sie sicher und frohen Mutes hinüber in das Jahr 2015.
Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute für das Neue Jahr! Möge viel Positives passieren, aber bleiben Sie vor allem gesund und munter!

Danke für Ihre Treue und für die vielen Kommentare!

Bis 2015!
Vorbereitungen für die Silvester-Party ... (Disco-Kugel, Luftballons, Strahler)

©Dezember 2014 by Michèle Legrand
Michèle Legrand - Michèle. Gedanken(sprünge) @wordpress.com

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