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Der Hamburger Michel: Wem die Glocke schlägt …

Hamburg - Michel - Teilansicht mit Turm (von der Nordseite)

Hamburg – Michel – Teilansicht mit Turm (von der Nordseite)

Als ich noch ein Kind war, wohnte in der Nachbarschaft ein Herr, der relativ häufig Gäste von außerhalb erwartete. Kehrte ich aus der Schule zurück, fragten mich oft bereits an der Einmündung in meine Straße Menschen nach dem Grundstück von Herrn (nennen wir ihn) Beckkamp.
Ich habe keine Ahnung, ob dieses Suchen der Leute ausschlaggebend für die Existenz eines Erkennungszeichens in seinem Vorgarten war. Er hatte dort einen überdimensional großen Gartenzwerg aufgestellt, der jeden Ankömmling unerhört fies angrinste.
Er erleichterte die Wegbeschreibung ganz enorm.
„Wo Herr Beckkamp  wohnt? Gehen Sie etwa 150 m, dann sehen Sie auf der linken Seite einen hämischen Riesenzwerg mit Laterne …“
Schauten die Fragenden daraufhin komisch oder irritiert, fügte ich dann und wann hinzu, dass ich damit nicht Herrn Beckkamp selbst meinte, sondern seinen Vorgartenbewohner.
Offenbar fand man den guten Mann auf diese Art, denn ich wohnte ein Stück dahinter, und es gab keinen, der mir später dort – immer noch suchend – aufgefallen wäre.
Worauf ich hinaus will:
Es ist immer gut, ein Erkennungszeichen, ein Symbol, ein Emblem, ein Wappen, ein Wahrzeichen zu haben! Sie wissen viel schneller, leichter und sicherer, dass Sie am richtigen Ort sind.
Ein Fitzel der Freiheitsstatue reicht aus, um Ihnen zu sagen, dass Sie in New York sind.
Ein paar Metallstreben vom Eiffelturm – Paris!
Petersdom – Vatikanstadt.
Big Ben – London usw.
Das Wahrzeichen von Hamburg, oder zumindest eines von ihnen, ist die St. Michaeliskirche nahe des Hafens, deren hoher Westturm, der Michel, weithin gut sichtbar ist. Im Ursprung ist er eigentlich eine Landmarke, so lautet auch der englische Begriff für Wahrzeichen (landmark und in Städten: town’s landmark). Landmarke ist eine Bezeichnung, die aus der Luft- und Schifffahrt stammt. Es  steht für ein Küstenseezeichen, das aufgestellt wird. Das kann ein Leuchtturm sein, auf jeden Fall jedoch ein auch auf große Entfernung hin sichtbares topographisches Objekt. So fungieren natürlich ebenfalls hohe Kirchtürme und Gebäude als Landmarken, sind mit der Zeit aber gleichzeitig Wahrzeichen geworden.

Sie kennen das Gegenteil von Wahrzeichen? Genau. Ein Falschmal. Wenn Ihnen beispielsweise jemand versucht zu erklären, dass die Akropolis bzw. der Parthenon ein Wahrzeichen von Stuttgart sei, dann ist beides zwar immer noch ein Wahrzeichen, doch sind es Falschmale von Stuttgart. Auch wenn etwas Potthässliches zum Wahrzeichen wird, spricht man gern von Falschmal (Sie glauben mir bitte nicht alles …)

Heute möchte ich Sie gern mit hinauf auf den besagten Michel nehmen. Wenn Sie sich hier schon des Öfteren im Blog einer Tour angeschlossen haben, ahnen Sie, dass Sie für weitere seitenlange Informationen bezüglich Geschichte, Entwicklung, Daten, Technik etc. dazu verdammt sind, selbst zu googeln. Ich sehe es nicht als meinen Job oder sinnvoll an, alles hier in meinen Blog zu kopieren, damit Sie die nächsten drei Stunden beschäftigt sind und graue Haare bekommen.
Hier gibt es davon Prisen. Gesundheitsverträglich. Und Sie stellen sich am besten auf Gedankensprünge ein. Sie wissen schon: Michel und Gartenzwerg, Falschmal etc.
Machen wir uns einfach auf den Weg. Wenn Sie Fragen haben, immer her damit. Ansonsten dränge ich Ihnen das auf, was ich interessant finde. Freiheit der Bloginhaberin… ;)

Wir nähern uns der imposanten Kirche von Norden. Wenn Sie – wie ich – von der Binnenalster kommen und ohne Straßenkarte marschieren, halten Sie einfach auf den Turm zu. Seine markante Spitze schaut immer wieder zwischen den Häusern der Innenstadt hervor. Immerhin ist der Michel mit 132 m Höhe auf Platz 12 der Liste der höchsten Kirchengebäude der Welt! In Hamburg ist nur St. Nikolai noch etwas höher (5. Platz).
Auf dem 1. Platz ist übrigens das Ulmer Münster (161,53 m). Noch vor der Basilika Notre-Dame de la Paix in Yamoussoukrou, (Elfenbeinküste), dem Kölner Dom und der Kathedrale von Rouen. Das nur nebenbei.

2_Hamburg - Michel - Gesamtansicht

Gesamtansicht. Die Kirche mit dem Michel von Norden gesehen.

Hier auf dem Vorplatz sind spezielle Platten in den Boden eingelassen, und es kommen kontinuierlich welche hinzu. Wenn Sie glauben, das Pflaster sei irgendjemandem sonst zu eintönig geworden, dem ist nicht so. Es handelt sich um Spendertafeln. Seit 1983 wird die St. Michaelis-Kirche saniert und restauriert. Vor vielen Jahren schon wurden dafür dringend zusätzliche Mittel benötigt, und man suchte händeringend nach Geldgebern. Vor 18 Jahren startete die Aktion mit den Tafeln, in die die Namen von Spendern eingraviert werden, die mindestens 100 Euro gestiftet haben. Sobald 99 Namen zusammen sind, wird die nächste Platte auf dem Vorplatz des Michels verlegt. Manche Spender gedenken damit auch besonderer Ereignisse oder erinnern an Verstorbene.

3-Hamburg - Michel - Vorplatz - Spendertafeln

Auf dem Vorplatz: Im Boden verlegte sog. „Spendertafeln“ (siehe Text)

Die Stellen, die hier vorbereitet sind, erhielten am 03. Juli insgesamt vier neue Tafeln eingesetzt.

4_Hamburg - Michel - Vorplatz - neue Spendertafeln sind vorbereitet zum Einsetzen

An der St. Michaeliskirche – Neue Spendertafeln sind vorbereitet und wurden am 03. Juli 2012 eingesetzt.

Wir überqueren den Platz, passieren das Standbild von Luther und sind am Eingang, der sich in der Straße „Englische Planke“ befindet.

5_Hamburg - Michel - Martin Luther und an der Straße Englische Planke zu erkennen: 5_Hamburg - Michel - Martin Luther und an der Straße Englische Planke zu erkennen 5_Hamburg - Michel - Martin Luther und an der Straße Englische Planke zu erkennen: das traditionsreiche Restaurant Old Commercial Room

Martin Luther – Schräg gegenüber an der Straße „Englische Planke“ zu erkennen:das traditionsreiche Restaurant „Old Commercial Room“.

6_Hamburg - Michel _Durchgang vom Vorraum zum Kirchenschiff_Gott der Herr ist Sonne und Schild_Psalm 84-12

Michel – Durchgang vom Vorraum zum Kirchenschiff (Schriftzug über der Tür: Gott der Herr ist Sonne und Schild, Psalm 84-12

Sie merken, es ist ziemlich voll. Draußen treffen von Zeit zu Zeit –  abgesehen von einzelnen Touristen – auch Reisebusse ein, aus denen stets große, michelhungrige  Gruppen herausquellen. Auf sie stoßen wir hier gerade …
Sie haben die Wahl, ob Sie nur das Kirchenschiff mit Altarraum besichtigen, was offiziell nichts kostet. Allerdings werden Sie gleich beim Eintreten um eine Spende von 2 Euro gebeten.
Sie können weiterhin für 6 Euro die Krypta und den Turm besichtigen oder für 4 Euro nur den Turm.
Unter Krypta versteht man die Gruftgewölbe. Die Gruft des Michels zählt zu den größten in Europa und erstreckt sich unter dem gesamten Kirchenschiff!
Im letzten Krieg wurde diese Krypta als Luftschutzbunker genutzt. Damit die Menschen sie erreichen konnten, legte man einen Durchgang von der Straße zum Gruftgewölbe an. (Bis zu 2.000 Personen fanden dort Schutz)
Begraben wurden hier u. a. Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Mattheson und auch der Erbauer der Kirche, Ernst Georg Sonnin.
Da es jedoch momentan so voll ist und wir dort nicht totgetrampelt und ebenfalls begraben werden wollen, nehmen wir uns stattdessen den Turm vor. Das Wetter ist gut – wir dürfen uns also auf den Ausblick oben freuen. Die Aussichtsplattform befindet sich in der luftigen Höhe von 106 m.
Was steht zwischen uns und diesem Top-Ausblick?
453 Stufen, die erklommen werden wollen!
Sie wollen doch, oder?
Es gibt selbstverständlich auch einen Lift, der ab dem 1. Stock eingesetzt wird. Das heißt, 52 Stufen bis dorthin müssen sie auf jeden Fall ersteigen. Doch wenn nicht gesundheitliche Gründe dagegen sprechen oder sie körperlich eingeschränkt sind, dann verzichten Sie auf den Fahrstuhl! Sie sehen und erleben sonst wirklich nur die Hälfte! (Ich erinnere Sie später an meine Worte)
So wuselig es eben noch im Vorraum war, kaum lassen wir eine schwere, hölzere Verbindungstür hinter uns, befinden wir uns unvermittelt  im recht leeren Zugang zum Treppenhaus. Eine kleine Glasvitrine zur Rechten im Vorraum zeigt Ihnen, was der Michel für Sie als Souvenir parat hat.

6a_Hamburg - Michel - Souvenirs, Souvenirs ...

Souvenirs, Souvenirs …

6b_Hamburg - Michel - ... oder doch eine Schneekugel inkl. Hummel-Figur

… oder doch vielleicht eher die Michel-Schneekugel inkl. Hummel-Figur?

Einige Stufen höher erreichen wir das Fahrstuhlgeschoss. Dort vor dem Lift hat sich eine Menschentraube gebildet, die wartet. Nicht so wir! Wir haben freie Bahn.

7_Hamburg - Michel - raue Backsteinwände, Ausblick, aber noch ganz weit unten ...

Hamburg – Michel – In Höhe des Fahrstuhlgeschosses – Raue Backsteinwände, Ausblick ja – aber noch ganz weit unten …

Sehen Sie, wer mit uns läuft? Eine etwa 60jährige Dame mit ihrer ca. neun Jahre alten Enkelin, ein Paar Mitte dreißig ist kurz vor uns, und wenn sie zurückschauen, entdecken Sie zwei Herren und eine Dame in den Zwanzigern, die offenbar zusammengehören.
Die Art der Treppe ändert sich ein wenig. Ab hier gibt es nur noch offene Stahlblechstufen.
Alle Turmbesteiger starten sehr euphorisch, drahtig und siegessicher. Bereits nach etwa 100 Stufen ist die Luft allerdings etwas heraus. Die Reihenfolge hat sich geändert. Sie und ich haben das Paar überholt, die Dame mit Enkelin macht jetzt Pause und sucht ihre Wasserflasche, die jüngeren Leute, die hinter uns waren, haben hingegen uns überholt, was aber offenbar unklug war. Ich befürchte, sie haben ihre Kräfte nicht gut eingeteilt. Einer schwitzt sichtbar, die Unterhaltung wurde schon eingestellt. Grund: Atemnot.

8_Hamburg - Michel - Auf Stahlblechtrittstufen nach oben - Treppe um Treppe ...

Hamburg – Michel – Auf Stahlblechtrittstufen nach oben – Treppe um Treppe …

Wir passieren den dritten Boden, den Ort der Glockenwerkstatt. Ich dachte zuerst, hier werden Glocken gepflegt, gewartet und repariert, so weit sich das vor Ort machen lässt  und war dementsprechend überrascht über einen Hinweiszettel, auf dem zur Ruhe ermahnt wird. Die Glocken machen Radau, die Menschen schweigen?
Erst später lernte ich, dass die Glockenwerkstatt eine Einrichtung für Schüler der 3. und 4. Klasse ist, die dort z. B. den Klang von 18 kleinen Glocken testen können. Projektarbeit wird durchgeführt. Wie entsteht ein Glockenton, wie werden Glocken gegossen? All das wird dort an sie herangetragen.
An diesem Tag verrät nichts den Sinn und Zweck. Es steht nichts Verräterisches herum.

Der Blick wandert nach oben. Es ist nicht zu erkennen, wo das Ende der Treppen ist. Es führt immer eine gerade Treppe hinauf, Sie betreten ein kleines Podest, drehen und die nächste Treppe gleicher Art führt in Gegenrichtung weiter nach oben. Gelegentlich wird der Aufstieg durch zur Unterteilung eingebaute Türen gebremst.
Umgeben von Backsteinmauern geht es weiter aufwärts. Das Tempo hat allgemein merklich nachgelassen. Ich höre, das der eine Herr etwas schnippisch seiner nach Luft schnappenden Gattin vorhält:
„Ich wollte ja den Aufzug nehmen …!“
Sie kontert:
„… hättest aber nachher keinen Kuchen bekommen!“
Nun, er schiebt ein veritables Kügelchen vor sich her …
Der Enthusiasmus ist unterschiedlich ausgeprägt und nach und nach geben alle vor, sich das Innere des Turms genauer angucken zu wollen. Stehenbleiben und Wände betrachten. Backsteine sind … faszinierend. Plötzlich.

Sie können noch, ja?
Die gute Hälfte ist geschafft. 70 m Höhe haben wir erreicht, und hier – Sie werden es anhand der Fotos erraten – ist der Glockenstuhl mit insgesamt sechs Glocken.

9_Hamburg - Michel - Eine der sechs Glocken des Michels: Die Schifffahrtsglocke (oben)

Eine der sechs Glocken des Michels: Die Schifffahrtsglocke (oben)

10_Hamburg - Michel - ... direkt darunter die schwerere Bürgerglocke

… direkt darunter die schwerere Bürgerglocke (siehe auch Text)

279 Stufen liegen hinter uns. Der siebte Boden des Turms taucht auf, der sogenannte Türmerboden. Hier trompetet der Michel-Türmer jeden Tag einen Choral. Er spielt jeweils eine Strophe aus einem geöffneten Fenster, beginnend bei dem Ostfenster und fährt im Uhrzeigersinn fort. („Zum Lobe Gottes, den Menschen zur Freude!“ – verrät eine Tafel am Turmaufgang).
Kommen Sie, wir haben schon so viel geschafft! Halten Sie noch ein bisschen durch!

420 Stufen. Die nächste Treppe. An ihrem oberen Ende quietscht eine Tür und ein zerzauster Kopf schaut um die Ecke.
Erwartungsfrohe Blicke werden hochgeschickt.
„Hallo, Sie sind gleich oben!“, spricht der Kopf und die Lippen verziehen sich zu einem freundlichen Grinsen. Es folgt die  Versicherung, dass  sich der Kraftakt gelohnt hat. Während wir die letzten Treppenstufen bewältigen, rüstet er sich seinerseits für den Abstieg.
Es hat sich gelohnt?
Wir werden sehen … Die Metalltür mit dem grobmaschigen Lochmuster (wie Drahtgitter) trennt uns noch von der Aussichtsplattform, wird unter Quietschen weiter aufgedrückt und dann …

Wahnsinn!

Sie haben zwar für einen winzigen Moment die Befürchtung, im Käfig zu sein, denn zum Schutz der Besucher sind rundherum senkrechte Gitterstäbe, doch sobald sie näher herantreten und direkt vor den Zwischenräumen der Stäbe stehen, ist dieses Gefühl vergessen. Dann ist da etwas anderes.
Weite. In jede Richtung.
Eine riesige Stadt. Die Elbe. Der Hafen. Grün.
Ein endloses Häusermeer. Kirchtürme, der Fernsehturm.
Stadien, Flüsse, die Binnen- und die Außenalster …

Wollen Sie auch mal schauen?

12_Hamburg - Michel - Belohnung fürs Treppensteigen: grandiose Aussicht -Landungsbrücken mit dem Alten Elbtunnel , gegenüber Blohm und Voss (Werft)

Belohnung fürs Treppensteigen: grandiose Aussicht! Landungsbrücken mit dem Alten Elbtunnel, gegenüber Blohm+Voss (Werft)

13_Hamburg - Michel - Blick Richtung Elbphilharmonie (Baustelle), Speicherstadt und Hafen-City

Hamburg – Michel – Blick Richtung Elbphilharmonie (Baustelle), Speicherstadt und Hafen-City

14_Hamburg - Michel - Blick auf die Innenstadt. Links die Außenalster mit Segelbooten, rechts mit grünem Dach das Rathaus, rechts daneben erst Petrikirche, dann St. Jakobi

Blick auf die Innenstadt. Links die Außenalster mit Segelbooten, rechts mit grünem Dach das Rathaus, rechts daneben erst Petrikirche, dann St. Jakobi

15_Hamburg - Michel - Ein Blick Richtung Norden. Links vom Fernsehturm (Heinrich-Hertz-Turm) mit den Messehallen ist der alte Flak-Bunker am Heiligengeistfeld (DOM) zu erkennen.

Blick vom Michel Richtung Norden. Links vom Fernsehturm (Heinrich-Hertz-Turm) mit den Messehallen ist der alte Flak-Bunker am Heiligengeistfeld (DOM) zu erkennen.

16_Hamburg - Michel - ... den Blick von dort aus weiter nach links gerichtet, zeigt etwas genauer den Bunker und daneben das Millerntor-Stadion, in dem der FC St. Pauli spielt.

Michel – … den Blick von dort aus weiter nach links gerichtet, zeigt den Bunker etwas genauer und daneben das Millerntor-Stadion, in dem der FC St. Pauli spielt.

Sie können noch ein paar Stufen höher geklettern– hier hinauf:
Kommen Sie, hier haben Sie völlig freie Sicht!

17_Hamburg - Michel - Es geht noch höher (da war ich eben). Die Stufen von der Aussichtsplattform führen zu den beiden Turmuhrglocken

Es geht noch höher. Die Stufen von der Aussichtsplattform führen zu den beiden Turmuhr-Schlagglocken (siehe auch Text)

Die beiden Glocken gehören zur Turmuhr, der größten in Deutschland mit acht Metern Durchmesser. Und die Zeigerlängen! Schon für den kleinen Zeiger müssten zwei Leute aufeinanderstehen (3,60 m). Der große Zeiger ist sogar 5 m lang, Gewicht 130 kg!
Dies hier oben sind Schlagglocken.
Sie kennen den Unterschied zwischen dem Schlagen und dem Läuten bei Glocken?
Beim Schlagen bleibt die Glocke ruhig, und von außen fällt ein Hammer auf sie, der den Ton erzeugt. (Sie kennen Ausdrücke wie z. B. Deine letzte Stunde hat geschlagen oder auch Wissen, was die Stunde geschlagen hat – im Sinne von: die Lage einschätzen können)
Beim Läuten hingegen wird die Glocke in Schwingung versetzt. Der in ihr eingehängte Klöppel erzeugt die Töne.

Wie sieht es aus?
Wenn Sie auch das Gefühl haben, Sie hatten genügend Zeit, den Ausblick zu genießen, machen wir uns nun an den Abstieg. Das sollte weniger anstrengend werden.
Psst!
Moment …
Hören Sie das auch?
HÖREN SIE DAS? (Entschuldigung, ich muss lauter reden!)
Die Glocken läuten!
Nein! Nicht die kleinen der Turmuhr! Die großen im Glockenstuhl!
SIE LÄUTEN!

Kommen Sie! Das müssen wir nicht nur hören, das müssen wir auch sehen!
Es kommt heute nur noch relativ selten vor, dass Menschen (Glöckner) an Seilen zerren, dabei auf und ab springen, zeitweilig in der Luft hängen, um auf diese sportliche Art und Weise die Glocken zum Schwingen zu bringen. Es wird fast keine Handarbeit mehr geleistet. Das Läuten ist elektronisch gesteuert, doch wir kommen direkt, hautnah an den Glocken vorbei!

11_Hamburg - Michel - Gut zu erkennen, wie nahe die Treppen an den Glocken vorbeigeführt werden ...

Michel – Gut zu erkennen, wie nahe die Treppen an den Glocken vorbeigeführt werden …

Bis ganz unten sind es insgesamt neun Stockwerke, doch bei unserem Tempo, sind wir gleich wieder in einer Höhe mit dem Glockenstuhl (ca. 70 m), und der Lärm nimmt mit jeder Stufe, die hinter uns liegt, zu. Eine letzte Verbindungstür versperrt noch die Sicht.
Öffnen.
Hindurch.
JETZT!

Ein unvorstellbares Dröhnen! Fast fühlbare Schallwellen. Ineinander übergehende Glockentöne. Nachhall. Ein nicht enden wollendes Geläut.
Der Boden unter den Füßen vibriert leicht, die metallenen Treppenstufen zittern. Es überträgt sich auf den Körper, steigt in ihm hoch – von den Füßen bis zu den Haarspitzen.
Die Knochen brummen.
Die Herzfrequenz ist erhöht.
Und Sie schauen hin. Sie schauen gebannt auf dieses Schwingen!
Ihre Augen wandern mit, wie sie auch dem Ball bei einem Tennismatch folgen.
Hin und zurück.
Hin und zurück.

Sie haben das seltsame Gefühl, als würde auch der Turm beginnen, leicht zu schwingen.
Hin und zurück.
Die Glocken haben etwas Magisches.
Wie Pendel.

Es wirkt so leicht, so easy. Als koste es nicht mehr Anstrengung als jene, die ein Barkeeper beim Schütteln des Cocktailbechers aufwenden muss. Kaum vorstellbar, dass die Gewichte der insgesamt sechs Glocken des Michels sich im Bereich von gut einer bis zu etwas über neun Tonnen (die Jahrtausendglocke) bewegen.
Die gerade schwingende Schifffahrtsglocke wiegt immerhin 2.850 kg, die Bürgerglocke sogar 4.900 kg.  Das heißt, die 23 Menschen, die gerade insgesamt auf der Aussichtsplattform waren, wiegen bei einem angenommenen Körpergewicht von 70 kg pro Person, alle zusammen trotzdem nur ein Drittel des Gewichts der Bürgerglocke!
Kleiner und leichter sind die Gemeindeältesten- , Kirchenvorsteher – und Pastorenglocke (zwischen ein und zwei Tonnen).

Sie können jetzt sowieso nicht hören, wenn ich weitererzähle, deshalb schauen Sie doch einmal in die Runde.

Die ältere Dame mit der Enkelin ist auch hier. Die Kleine versucht, sie mit sich wegzuziehen. Ihr ist es zu laut. Sie fühlt sich unwohl.
Andere auf- und wieder absteigende Michelgäste sind in ihrer Reaktion so vielfältig, wie es Menschen insgesamt sind. Still und fasziniert, scheinbar völlig unbeeindruckt, genervt, mit glänzenden Augen dem Spektakel folgend, irritiert, fotografierend, filmend, brüllend, damit der Nachbar etwas versteht – es ist alles dabei.
Die Treppenstufen sind blockiert, denn das Stoppen, das wie angewurzelte Stehenbleiben, kam fast bei allen ganz abrupt. Kaum einer ist sofort  weiter bis zum nächsten Podest gegangen.
Hat es schlichtweg vergessen.
Hypnotisch, diese Glocken …

Langsam verklingen sie. Noch ein letztes lautes „Bing-Bembel-Klong“, das nachhallt. Die letzten Vibrationen. Und dann ist sie da.
Ganz plötzlich.
Eine beinahe unheimliche Stille …
Noch ist keiner weitergegangen. Die, die vorhin brüllten, sagen jetzt, wo sie normal reden könnten, keinen einzigen Ton.
Zeit vergeht. Ein erstes Räuspern.
„Tja …“
„Wollen wir …?“
So beginnen vorsichtige Konversationsversuche. Der Bann ist gebrochen. Normalität kehrt wieder ein. Schon eine halbe Treppe weiter tut jeder so, als sei überhaupt nichts gewesen …

Und Sie?
Ist Ihr Gehör noch intakt? Ist das Bild der schwingenden Glocken verschwunden oder weiterhin präsent? Hat sich Ihr Herzschlag normalisiert?  Gehorchen die Beine wieder?
Dann lassen Sie uns den Rest der Treppen bewältigen …

Vielleicht entsinnen Sie sich, dass ich Sie vorhin „später“ an etwas erinnern wollte. Es ging um die Entscheidung zwischen Lift nehmen und Treppen steigen, um den Michel kennenzulernen. Ich sagte Ihnen, Sie würden im Aufzug die Hälfte verpassen.
Stimmen Sie mir – eventuell – zu?

Wir sind wieder sicher unten angekommen. Nun schauen Sie sich das an! Es ist immer noch ein ebenso großer Andrang wie vorhin! Wir können auch lediglich einen kurzen Blick in den Kirchenraum werfen, denn offensichtlich findet hier gleich eine Trauung statt. Es gibt Absperrungen, der Hauptpastor des Michels wartet bereits auf das Brautpaar, Fotos sind während der Zeremonie nicht gestattet.

18_Hamburg - Michel - Innenraum mit Blick auf Altar (Hochzeit stand bevor, daher Absperrung und keine weiteren Fotos möglich)

Hamburg – Michel – Innenraum mit Blick auf Altar (eine Hochzeit stand bevor, daher Absperrung und keine weiteren Fotos möglich)

Wissen Sie was? Die fünf Orgeln, die Krypta etc. können wir ein anderes Mal besuchen.
Wir sollten dem Michel jetzt Lebewohl sagen.

19_Hamburg - Michel  - ... der Weg hinaus. Das halbrunde Bleiglasfenster ist von August Vogel (1911). Es besteht aus 36 Teilen. Der Titel lautet _Der Heilige Geist gießt seinen Segen über Hamburg aus_

Michel – … der Weg hinaus. Das halbrunde Bleiglasfenster ist von August Vogel (1911). Es besteht aus insgesamt 36 Teilen. Der Titel lautet: „Der Heilige Geist gießt seinen Segen über Hamburg aus.“

Vielleicht treffen wir uns  wieder. Und falls Sie erneut einmal Lust verspüren , den Turm zu erklimmen, lassen Sie es uns doch beim nächsten Mal in der Dunkelheit machen!
Wie schön muss es sein, auf die erleuchtete und doch halb schlafende Stadt hinabzublicken …

©Michèle Legrand – Juli 2012

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