Beiträge getaggt mit Trauer

Bis in alle Ewigkeit …

Michèle Legrand  - Michèle. Gedanken(sprünge) - BLOGViele Menschen haben bereits erlebt, wie es ist, einen Menschen gehen lassen zu müssen.
Endgültig.
Sie möglicherweise auch …
Manchmal kam es erwartet, in vielen Fällen auch völlig überraschend.
Was ist geblieben?
Nur der Stein auf dem Grab, der ausdrücken soll „Ich war hier“?
Nur Schmerz um den Verlust, womöglich sogar Groll? Die Angst vor Künftigem, vielleicht sogar die vor dem eigenen Gehen müssen?
Oder ist da auch Dankbarkeit? Für gemeinsame Erinnerungen, einfach dafür, dass man einen Teil seines Lebens mit diesem Menschen verbringen durfte?
Ihm überhaupt über den Weg lief!

Ich habe eine Geschichte bei mir im Blog, die ich 2010 veröffentlichte. Die wahre Geschichte einer Freundschaft.
Heute am Totensonntag, der auch Ewigkeitssonntag genannt wird, möchte ich Ihnen den Link dazu hier hinterlassen.
Manche Menschen werden einem immer fehlen und bleiben einem gleichzeitig bis in alle Ewigkeit nahe …

Sie – Die Geschichte einer Freundschaft
-> https://michelelegrand.wordpress.com/2010/11/21/sie/

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Sie – Die Geschichte einer Freundschaft

Heute ist Sonntag. Der 21. November 2010. Dieser Sonntag …
Das ist der einzige Kommentar, den ich vorweg dazu geben möchte.
Und es wird auch danach keiner folgen.

Die Audioversion (kostenfrei) ist unter folgendem Link abrufbar:
->https://www.sugarsync.com/pf/D6851760_7339928_414552

SIE – Die Geschichte einer Freundschaft

Sie stand in der leeren Wohnung und starrte an die Wand. Dorthin, wo bis vor kurzem das Bild gehangen hatte. Sie konnte es vor sich sehen, konnte jede Einzelheit, jeden Strich, jede Farbnuance wiedergeben.
Es gab manchmal in Zeitschriften Bilderrätsel. Scheinbar zweimal dasselbe Bild, dass nebeneinander abgedruckt wurde – und doch hieß es: suche die Fehler.  Oh nein, man hätte sie nicht verunsichern können! Sie würde jede noch so kleine Abweichung erkennen, jeden kleinen Fehler finden.
Das Original erschien vor ihrem inneren Auge. Zwei Mädchen, junge Frauen, nebeneinander auf einer Gartenbank sitzend, entspannt  lächelnd und vertraut miteinander wirkend. Ein sonniger Herbsttag war es gewesen, und leichter Wind hatte die Haare der beiden verweht.
Freundinnen. Vor langer Zeit war dieses Foto entstanden und gerahmt worden. Die Freundin hatte eine Kopie dieses Bildes zu Hause hängen gehabt. Viele Jahre.

Sie hatten sich erst als Teenager getroffen, und doch kam es ihnen immer wieder so vor, als würden sie sich bereits ihr ganzes Leben lang kennen. Irgendwann hatten sie sich gegenseitig von ihrer Kindheit erzählt und gar nicht erstaunt festgestellt, dass sie natürlich ähnlich verlaufen war und dass sie sich im Wesen unheimlich ähnlich waren.
Sie, die bereits als Kind diesen unbändigen Freiheitsdrang gehabt hatte. Aus Erzählungen wusste sie, dass sie sogar schon als Baby lautstark protestiert hatte, sobald die Eltern den Versuch unternommen hatten, ihr zur Nacht einen Schlafsack anzuziehen.
Und sie, die andere, die überhaupt nicht begeistert war, wenn sie den Laufstall nur von Weitem erblickte.
Keine mochte dieses Einengen, dieses Gefühl, eingesperrt zu sein. Weder körperlich, noch in irgendeiner anderen Art und Weise. Es nahm ihnen den Atem.
Als Schulkinder verstanden sie zwar sich anzupassen, konnten vieles hinnehmen und lernten, ihre Bedürfnisse zurückzustellen, ihr Unwohlsein hinter einem Pokerface zu verbergen. Alles andere hätte ihre Lage in dem Umfeld, in dem sie groß wurden, eher verschlechtert als verbessert. Wer sie nicht gut kannte, und das waren viele, bekam weder etwas von den häuslichen Katastrophen, noch ihrem Unbehagen oder gar ihren wirklichen Wünschen und Hoffnungen mit.
Sie ließen ihre Phantasie spielen, und wenn es sie nach Freiheit verlangte, musste manchmal der Wind im Gesicht reichen, der ihnen bei einer wilden Fahrradtour entgegen blies. Oder die Höhe aus der sie schauen konnten, wenn sie einen der knorrigen Bäume erklommen. Das Gleiten auf uralten Rollschuhen bergab. Das Entstehen von Bildern im Kopf. Das Erleben von Geschichten in einer anderen Welt.
Jede hatte das für sich getan. Jede war so auch ein wenig der Wirklichkeit daheim entflohen und hatte nur auf den Moment gewartet, der ihnen das Recht gab, sich ihr Stückchen Freiheit zu nehmen.
Die eine hatte es mit 19 Jahren in Venezuela gemacht, hatte Koffer gepackt und war nach Deutschland gekommen, das Land ihrer in den 40er Jahren nach Südamerika ausgewanderten Familie.
Die andere hatte ein paar Habseligkeiten gesammelt, eine Miniwohnung bezogen,  gearbeitet wie ein Tier und  dabei ganz langsam angefangen zu leben.
Jede hatte Wunden geleckt, hatte aber gewusst, dass jetzt die Zeit des Gesundens gekommen war. Es war die Zeit gekommen, mit Vorherigem abzuschließen. Frieden zu schließen.

Und dann waren sie sich über den Weg gelaufen. Bei Freunden eingeladen. Nach fünf Minuten ins Gespräch gekommen, verblüfft geschwiegen. Den Rest des Abends nur beobachtet und später still die Party verlassen. Beide hatten unabhängig voneinander den Gastgeber am nächsten Tag gefragt, ob er wüsste, wie man die jeweils andere erreichen könnte.
Sie waren in einer undefinierbaren Art überwältigt gewesen vom dem Gefühl, einen Menschen gegenübergestanden zu haben, der der berühmte Seelenverwandte sein konnte.
Später kam das erste richtige Treffen und aus dieser ersten Bekanntschaft wuchs eine tiefe Freundschaft. Blindes Verstehen, blindes Vertrauen. Bei beiden der Wunsch, daran zu glauben, dass die Welt eben doch besser war, als bisher erfahren. Das wachsende Gefühl, dass es doch Menschen gibt, die anders sind, eben menschlich, mitfühlend, lebendig – in ihrem Herzen einfach gut. Der Glaube daran war zeitweise nicht mehr vorhanden gewesen.
Was hatten sie für Diskussionen geführt, was sie alles ändern und anders machen wollten – mit dem Nachwuchs, den sie selber gerne haben wollten – und gegenüber der Menschheit allgemein. Keine der beiden  hatte  je begreifen können, wie manchmal mit Kindern umgegangen wurde.
Wie man sich an ihnen vergriff, verging.
Wie man sie sich selbst überließ, sie mit Gleichgültigkeit strafte, obwohl sie nichts getan hatten, was so ein Verhalten irgendwie hätte rechtfertigen können.
Wie man ihnen halbherzig Schwimmflügel hinwarf, die nicht aufgeblasen waren. Den Rettungsring, der nie da war – geschweige denn derjenige, der ihn zugeworfen hätte.
Das Wissen, dass es nur etwas bringen würde, wenn man Kindern zeigen würde, wie sie selber schwimmen konnten und gleichzeitig die tiefe Gewissheit vermittelte, dass im Notfall immer jemand da war.
Der Unglaube darüber, dass man in der Gesellschaft jeden neu gepflanzten Baum mit zwei dicken Stützpfählen vertäute. Stützpfähle dicker als der Baum selbst. Nur einem menschlichen Pflänzchen gab man diese Unterstützung nicht.
Der Wunsch, es anders zu machen, war tief im Innern verankert. Die Einsicht, dass man selbst etwas ändern musste, wenn die Umstände nicht so waren, wie man sie gern hätte.
Das Bedürfnis, in die Welt heraus zu schreien: Was ihr sät, das erntet ihr auch! Wer Zwiebeln anpflanzte, konnte keine Erdbeeren ernten. Es geht einfach nicht! Es kommt nichts anderes zurück, als das, was du hinein gibst!
Die Überzeugung, dass es sich bei positivem Handeln und positiven Gedanken genauso verhielt. Ebenso wie es auf negatives Tun zutraf.
Pläne wurden geschmiedet für die Zukunft. Beide heirateten, die eine war Trauzeugin der anderen, und beide wünschten sich Familie.

Dann kam alles anders. Sie wurde krank. Ernstlich. Sie kämpfte, und es sah so aus, als würde sie die Stärkere sein. Es besserte sich – um dann ein halbes Jahr später mit aller Macht zurückzukehren. Inzwischen war sie mit ihrem Mann für längere Zeit nach England gezogen. Es war beruflich für ihn nötig geworden. Die Ärzte halfen dort genauso gut oder schlecht wie sie es hier in Deutschland getan hätten. Eben so, wie es vom schulmedizinischen Wissen, ihrem Können und ihrer Erfahrung her möglich war.
Zwei Jahre Auf und Ab folgten. Anfangs hatte sie gewollt. Wollte leben. Nur als man ihr nach und nach immer mehr schlechte ‚Botschaften‚ mitteilte, verlor sie den Mut. Wollte sie auch ‚so‚ leben? Ständige Angst, keine Kinder, geschädigte Organe, Rückfälle, Operationen, Therapien und Isolation. Isolation, das war das Schlimmste gewesen, vor und nach der Knochenmarktransplantation …
Ihr Mann kam nicht damit zurecht und konnte ihr in seiner eigenen Hilflosigkeit keine Stütze, keinen Trost geben. Zweieinhalb Jahre vergingen insgesamt. Dann kam der Tag, an dem sie sagte, dass sie nicht mehr kämpfen wolle. Die Ärzte versicherten ihr, dass noch gute Chancen wären, wenn man – ja, wenn man hundert Dinge probieren würde. Sie sagte ja, ohne es zu meinen. In der Nacht versagten nacheinander die Organe, und sie starb mit nicht einmal 33 Jahren.

Ihr Blick kehrte zurück zur Wand, wo das abgehängte Bild einen hellen Fleck hinterlassen hatte. Sie hatte geholfen, die Wohnung mit leer zu räumen, denn der Mann ihrer Freundin hatte beschlossen, im Ausland  zu bleiben. Er hatte ihr versprochen, ihr dieses Bild zu überlassen. Doch es war weg gewesen, als sie das letzte Mal kam. Er konnte nicht sagen, wo es war oder wer es wohl genommen hatte. Sie hatte nur noch ein anderes, was sie beide zeigte. Nebeneinander am Tisch eines Gartenlokals, Eis löffelnd. Komischerweise gab es kaum Bilder von ihnen beiden.
Langsam ging sie durch den Flur hinaus ins Treppenhaus, zog die Tür hinter sich zu und warf den Schlüssel in den Briefkasten. Und wie eine alte Frau fiel sie von Stufe zu Stufe hinab, bis sie unten angekommen war. Draußen schien die Sonne, als wäre nichts geschehen.

Sie würde ihr so fehlen, und doch wusste sie in einer kleinen Ecke ihres Herzens, dass sie sie nie ganz verlieren würde.
Seelenverwandte gehen nie ganz.
Niemals.

©November 2010 by Michèle Legrand

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