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Leipziger Allerlei – Teil 1: Städte – Ein seltsames Phänomen
Veröffentlicht von ladyfromhamburg in Artikel, Auf Entdeckung - Unterwegs im In- und Ausland (s. dazu auch weitere Spezialkategorien), Auf Entdeckung ... in Leipzig, Foto, Geschichten / Menschliches Verhalten am 01/10/2011
„Ach, du willst nach Leipzig?“ Das schon wieder mit Fragezeichen dahinter bleibt diesmal unausgesprochen.
„Was willst du denn dort?“ Betonung auf dort.
Ich erinnere mich noch an den ungläubigen Ton in der Stimme, als ich das erste Mal fuhr und meine Pläne verriet. Halb interessiertes Zuhören, und dann der verständnislose Kommentar: „Aha!“
Beim zweiten Mal weniger Überraschung im Tonfall, jedoch dafür eine gehörige Portion Ungläubigkeit im Blick und die Frage:
„Magst du die Stadt (etwa)?“
Aber klar!! Nun, nachdem ich begeistert vom dritten Besuch heimkehre, ist die Neugier offenbar so groß, dass ich diesmal mehr erzählen soll. Über die Stadt im Osten.
„Ich dachte immer, du magst die Stadt nicht? Du wolltest da doch nie hin!“
Die Frage überrascht mich ungemein. Wie kommt sie denn auf diese Idee?
„Na, ich weiß noch, dass du dich geweigert hast, zur Leipziger Frühjahrsmesse zu fahren!“
Huch! Da werden jetzt aber ganz alte Kamellen hervorgeholt, und es ist wohl auch dringend nötig, einen kleinen Irrtum aufzuklären: Es hatte nämlich absolut nichts mit Leipzig zu tun!
Ich arbeitete in den 80er Jahren in einer Firma, die mit einigen ostdeutschen Kombinaten in geschäftlichem Kontakt stand. Der Besuch der alljährlichen Frühjahrsmesse war inzwischen ein Ritual. Kontaktaufnahme, Kontaktpflege, Vertragsabschlüsse. Jedes Jahr fuhr derselbe Prokurist, gleichzeitig auch Mitglied der Geschäftsleitung, dorthin und hatte die Angewohnheit, eine Sekretärin/Sachbearbeiterin/Kollegin mitzunehmen. O, wie fortschrittlich! kommt jetzt vielleicht. Die Sache hatte jedoch einen mächtigen Haken: Er brauchte sie definitiv nicht für die Büroarbeit! Es sprach sich herum. Die letzte Mitreisende hatte es für ernste Zuneigung gehalten, wurde nach der Rückkehr in ihre Schranken verwiesen, irgendwo auch zum Gespött der Kollegen und hatte letztendlich gekündigt. Wer es früher erst vor Ort in Leipzig verstand und dann rebellierte, brauchte nicht zu kündigen. Er bzw. natürlich sie wurde gekündigt. So sah es aus, als auf einmal die Frage an mich gestellt wurde:
„Möchten Sie dieses Jahr nicht mit auf die, ähem, Messe fahren?“
Ich habe mich herausgewunden. Mit meinem französischen Vor- und Nachnamen. Es gäbe mit meiner Nationalität immer Schwierigkeiten an der Grenze. Auch, weil sie glauben, ich müsste ein Mann sein…. Banges Herz, ausdrucksloser Blick. Schluckt er’s? ER hat’s geglaubt. Ich fuhr nicht.
Unser Prokurist konnte damit leben, ich hatte meine Ruhe, war happy, und – wie man sieht – hatte das alles mit Leipzig selbst, als Stadt, überhaupt nichts zu tun.
Ich kläre sie entsprechend auf.
„Ach! Ja, wenn das so ist… Also, ich war ja noch nicht da, aber was man früher so hörte… So toll kann das doch nicht sein! Kannst du mir mal verraten, was du da so magst?“
Was ich mag? Ich nenne ein paar greifbare Dinge, bin in Gedanken aber woanders, denn plötzlich fällt es mir ein wenig wie Schuppen vor den Augen. Ein kleiner Film läuft ab, und wer sich nur rein für das Thema Leipzig interessiert, kann jetzt ein großes Stück des Textes überspringen (Würde ich an eurer Stelle aber nicht machen… ;)
Momentan geht es um ein generelles, zugleich jedoch sehr bemerkenswertes Phänomen. Mit dem Mögen oder nicht Mögen ist das nämlich so eine Sache. Unter Menschen und Tieren sowieso. Doch es gibt auch eine Zu- oder Abneigung zu Städten.
Hör mal, da fahre ich doch nie wieder hin!
Einen solchen Satz hat schon mancher mit Inbrunst von sich gegeben. Nur hätte nicht jeder auch sofort differenziert beschreiben können, was genau ihm da nicht gefallen hat. War es wirklich die Stadt, d. h. waren es Bauwerke, Anlagen, Infrastruktur, Aufteilung/Gestaltung, Farbgebung, die missfielen?
Es ist sehr unnatürlich und unwahrscheinlich, dass eine Stadt von Ost nach West, von Nord nach Süd, in ihrer gesamten Ausdehnung gleich erscheint. Meist gibt es einen alten Kern, das Zentrum, das Herz einer Stadt. Darum herum und darauf folgend die Erweiterung, die mit fortschreitender Zeit, zunehmender Bevölkerungsdichte und vorangetriebener Industrialisierung nötig wurde. Immer neue Stadtteile, die sich jeweils in einer anderen Epoche entwickelten.Veränderte wirtschaftliche Voraussetzungen, andere Auffassungen, die Gültigkeit bekamen, andere Prioritäten, die gesetzt wurden. Plötzlich ein ganz anderer Stil in unmittelbarer Nachbarschaft, und irgendwann existieren auch Bereiche, in denen fast ausschließlich Industrie und Fabrikation anzufinden sind oder einen Großteil ausmachen. Ein Viertel verkommt, Menschen ziehen weg, ein anderes wird zum heimlichen Mittelpunkt oder Szenetreff. Kontraste. Dieser Teil gefällt, jener sagt einem nichts, einer ist sogar eher zum Weglaufen, wieder ein anderer wirkt einladend.
So gesehen, müssten wir in jeder Ortschaft, Stadt, Metropole etwas finden, mit dem wir klarkommen können. Etwas, das wir als schön empfinden. Etwas, das wir mögen. Doch ganz offenbar gibt es für jeden Menschen Plätze, an die er nie oder aber – im Gegensatz dazu – immer wieder zurückkehrt. Was lenkt uns, was schreckt uns? Was ist es, was uns abstößt oder anzieht? Wenn wir die Vielfalt einer Stadt erkennen, differenzieren, dann fällt doch für jeden etwas dabei ab. Gehe ich halt nicht nach Brimselburg-West sondern nach Brimselburg-Ost! Scheinbar klappt das Verfahren der Differenzierung jedoch nicht sonderlich. Was könnte der Grund dafür sein? Der Mensch tickt anders. Der Mensch verallgemeinert leicht. Der Mensch registriert unbewusst und wertet im Grunde irrational.
Nach meinem Empfinden sind es Emotionen, die wir (unser Gehirn) mit Örtlichkeiten verknüpfen und verbinden.
Rita flog das erste Mal mit dem Flugzeug. Ihr Ziel: Edinburgh. Ihre Maschine geriet in eine Unwetterzone mit heftigen Turbulenzen, so dass sie kurzzeitig um ihr Leben bangte. Sicher wieder auf dem Boden, schwor sie sich zuerst: nie wieder per Flugzeug, und nie wieder Edinburgh! Das Band des Schwurs leierte aus, das Flugzeug wurde freigesprochen und zurück blieb: nie wieder Edinburgh. War es nicht auch mehr das Wetter gewesen? Schottland. Regen! Na, bitte… Also, wenn die Stadt derart ungünstig liegt, dann ist sie doof. Gestrichen. Rita will dort nie wieder hin.
Richard kam am Hauptbahnhof in Bremen an. Schon im Zug hatte er sich über seinen Sitznachbarn aufgeregt. Der hatte sich breitgemacht, als gehörte ihm Richards Platz mit! Die Klimaanlage hatte nicht richtig funktioniert. Er fühlte sich verschwitzt, die Fahrt war ihm ewig vorgekommen, und nun suchte er verzweifelt ein Taxi. Gähnende Leere am Taxistand. Er stand sich gefühlt Stunden die Beine in den Bauch, obwohl es bestimmt nicht mehr als fünf Minuten gewesen waren. Als er endlich eines fand, muffelte ihn der Fahrer unfreundlich an und half nicht beim Gepäck. Bei seiner Fahrweise anschließend wurde Richard schlecht und beschissen hatte der Kerl ihn auch. Er hatte viel mehr bezahlen müssen, als ihm ein Bekannter vorher prophezeit hatte. Klarer Fall: Bremen ist doof. Die Stadt liegt am Ende der Welt (bei der Anfahrt!) und nur unfreundliches Pack unterwegs. Gestrichen. Nie wieder!
Anne hatte endlich Urlaub. Eine Woche Pisa, Sonne, wandern, ausruhen. Es ging gleich lustig los. Ihr Zug blieb kurz vor ihrem Ziel auf der Strecke stehen. Aufgrund eines Erdrutsches. Nach zu viel Regen. Der übrigens die ganze Woche anhielt, die sie dort verbrachte. Sie fror die ganze Zeit, kehrte mit einer veritablen Erkältung zurück und fühlte sich hundeelend. Geh mir weg mit Pisa! Nie wieder!
Wir sehen, es gibt Umstände, die einem den Aufenthalt in einer Stadt vermiesen. Die die Sicht auf die Stadt vernebeln. Die unseren Blick trüben und uns denken lassen: klar, liegt eindeutig an der Stadt! Eigenartiger Lärm, komischer Geruch, unfreundliche Gesellen, schlechtes Wetter, Sturz, herausgefallene Krone mit anschließendem Zahnarztbesuch, verpasste Bahn, ewig etwas gesucht, sich verlaufen, Pech gehabt, sich geschnitten, Zoff mit dem Partner, bei einer Prüfung durchgefallen – etwas in der Art reicht völlig aus.
Mann, in so eine Stadt fahre ich doch nicht noch einmal!
Umgekehrt funktioniert es natürlich genauso.
Patrick hatte ein Seminar in Ettlingen und kam mit dem Flieger nach Karlsruhe/Baden-Baden. Der Pilot hatte eine weiche Landung hingelegt, die Sonne schien, sein Gepäck war im Nu parat, ein Taxi stand direkt vor der Tür, und der freundliche Fahrer erkundigte sich, ob er einen angenehmen Flug gehabt hätte. Er fuhr gleichmäßig-zügig, der Wagen war wohltemperiert, und am Ende wünschte ihm sein Chauffeur sogar noch einen schönen Aufenthalt. Patrick war begeistert. Also nach Baden-Baden würde er wieder kommen. Tolle Stadt! Er weitete es gleich auf Ettlingen mit aus, obwohl er noch keinen Schritt dort getan hatte. (Eigentlich war es nur alles stressfrei gelaufen, das Wetter spielte mit, und er war auf einen netten Mitmenschen gestoßen)
Hätte sich Richard damals im halbleeren Zug einfach auf einen der freien Plätze verzogen und wäre er in Bremen nicht so eilig losgehastet, wäre er fünf Minuten später am Taxistand eingetroffen. Es wäre vieles anders gelaufen. Er hätte z. B. gleich ein Taxi gefunden. Er hätte unter Umständen Konstanze als Fahrerin gehabt, die alle mit ihrem Charme becirct. Sie ist Studentin, einfach immer gut drauf und fährt Taxi nur nebenbei. Richard hätte ihr Lachen bezaubernd gefunden, hätte ein wenig mit ihr geflirtet, wäre dann beschwingt aus dem Wagen gestiegen und hätte jedem erzählt: Also Bremen ist toll, da fahre ich bald wieder hin!
Wir merken, wir tendieren auch hier wieder dazu, unsere kleinen Puzzleteilchen, die wir erspähen, in Schubladen zu packen, denn Ordnung muss sein. Unser banaler Einstufungstest leistet doch gute Dienste! Nur während ein Puzzle sich aus sehr vielen Teilen zusammensetzt, reicht uns bei der Stadtbeurteilung (und auch bei anderen Dingen) oft ein einzelnes, kleines, im Grunde völlig unwichtiges Mittelteil, um uns ein Gesamtbild vorzugaukeln. Wie schön, auf diese Weise braucht unsere Kommode auch nur wenige Schubladen. Im Grunde nur zwei.
Ein einzelnes positives Erlebnis erzeugt das Bild der tollen Stadt = Schublade eins.
Ein mickriges, kleines, unbedeutendes, lästiges Vorkommnis: Na, die können mal ohne mich …! = Schublade zwei
Sobald nach der Ankunft auf diese Art und Weise das Urteil gefällt wurde, wird auch die weitere Wahrnehmung höchst einseitig. Der eigensinnige Kopf sucht nur noch nach Bestätigung der schon vorhandenen Meinung, für alles andere sind die Ohren auf Durchzug gestellt, die Augen blind.
Siehst du, habe ich doch gesagt! Der Kaffee ist auch kalt…
Hast du gemerkt? Der hat auch wieder so komisch geguckt….
Hier! HIER! Ich habe einen Kratzer am Auto! War ja klar! Hätte ich dir vorher sagen können! Typisch Bielefeld/Hamburg/Frankfurt/Mannheim/Hintertupfingen (beliebig).
Selbstverständlich funktioniert es auch wieder umgekehrt:
Lass uns doch ein Taxi nehmen, die Fahrer kennen sich alle aus, sind grundehrlich, höflich und stets hilfsbereit. Habe ich selbst erlebt. (Der Enthusiasmus nach einer (!) geglückten Fahrt)
Du, die haben die ganze Stadt renoviert. Hier ist einfach alles tipptopp und einmalig organisiert. (Ein neues Einkaufszentrum gesehen und wider Erwarten gleich einen Parkplatz mit funktionstüchtiger Parkuhr gefunden).
Die öffentlichen Verkehrsmittel funktionieren einwandfrei, sind superpünktlich und so was von sauber! Tolle Stadt! (Einmal zwei Stationen direkt ab Anfangshaltestelle mit einem Bus gefahren, der aus der Waschanlage kam)
Alle sind hier so hilfsbereit! (Es hat einmal jemand den Weg erklärt).
Soweit mein kleiner Film im Kopfkino, der hier für den generellen Einschub sorgte.
Nehme ich mir nun wieder Leipzig vor, stelle ich fest, es ist eine Stadt, die in die Kategorie: Toll, da muss ich wieder hin! fällt. Eine Erst-weg-und-hin-und-jetzt-hin-und-weg-Stadt.
Ich konnte nicht auf Anhieb konkret sagen, was genau diese absolute Gewissheit begründete, was genau dieses Gefühl ausgelöst hatte. Ich war mir sicher, dass dies nicht allein die Existenz eines toll aussehenden Bauwerks, ein zentral gelegenes Pensionszimmer oder das Feststellen eines günstigeren Preisniveaus, als ich es in Hamburg kenne, ausgelöst haben konnte.
Was ist es also dann? Was macht Leipzig so unwiderstehlich? Was lässt einen und speziell mich ins Schwärmen geraten, was zieht so an und verleitet zum Wiederkommen? Ist etwas dran an meiner persönlichen Emotionen-Theorie?
Ich werde im 2. Teil des Leipziger Allerleis versuchen, dieses Geheimnis zu lüften und die Stadt näher zu bringen. Ich beabsichtige, Besonderheiten und Auffälligkeiten vorzustellen. Dinge, die mir aufgefallen sind, nicht unbedingt Dinge, die der Reiseführer erwähnt. Heimliche Lieben und Schwärmereien preiszugeben. Das eine oder andere Bild zu posten. Bleibt doch dabei, wenn es heißt:
Leipziger Allerlei – Teil 2: Die Stadt Leipzig – Verfallen. Ihr. Nicht sie…