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Geruch, Geräusch oder auch das Ding … Zack! Zurückversetzt!
Veröffentlicht von ladyfromhamburg in Allgemein, Artikel, Foto am 29/03/2013
Es gibt etwas, was uns Menschen recht zuverlässig und schnell in die Vergangenheit beamen kann.
Ein Gerät? Eine Neuerfindung?
Nein, an technischem Schnickschnack wird noch geforscht und gefeilt. Doch es geht auch wesentlich simpler.
Tomatensaft. Nelkenseife. Hagebutten. Bier. Schweiß. Gemähtes Gras … Das wären jetzt meine persönlichen Beam-Mittel. Zumindest einige davon.
Und Ihre?
Sie kennen die Situation mit Sicherheit auch: Von irgendwoher dringt unvermittelt ein Geruch, der bei Ihnen etwas auslöst. Sie bleiben stehen und schnuppern. Wollen mehr davon! Oder – ganz im Gegenteil – Sie beschleunigen und versuchen dabei krampfhaft, die Luft anzuhalten.
Da ist ein Gefühl!
Bilder kommen hoch!
Geräusche …, Empfindungen …, Erinnerungen!
Wenn Sie und dieser Geruch zusammentreffen, geht es nicht wie üblich darum, kurz und recht objektiv zu entscheiden, ob Sie dies im Moment als Duft oder eventuell als Gestank, sprich als angenehm oder abartig empfinden.
Sobald Sie ein solch spezieller Geruch erwischt und er offensichtlich bei Ihnen eine Erinnerung auszulösen vermag, läuft das weitere Programm automatisch ab. Ihre heutige, bewusste Beteiligung ist abgestellt – zumindest vorerst massiv unterdrückt.
Vielleicht kommt ein überaus starker Wille danach wieder durch, reißt das Ruder an sich, doch zuallererst, spontan, verknüpfen Sie – wie unter Zwang – diesen Geruchseindruck mit etwas, was Sie in früheren Zeiten erfahren haben.
Sie haben aufgrund der Sinnesreaktion eine Assoziation und rufen ein dazu passendes Erlebnis auf. In Bruchteilen von Sekunden ist alles da – bevor Sie nachdenken und rational reagieren können!
Vielleicht ist dieser Geruch zudem für heutige Zeiten auffällig, weil untypisch und wenig verbreitet. Ungewöhnliche Essensgerüche, der Duft einer altmodischen Blume, selten verwendete Inhaltsstoffe in Reinigungsmitteln oder etwas, das in Textilien haftet, eine besondere Seife mit Nelkenduft etc. Zumindest kommt dieser Geruch Ihnen vermutlich relativ selten unter die Nase. Dadurch sind Sie besonders sensibilisiert und reagieren noch intensiver, wenn es denn einmal passiert.
Was ist los? Wieso ist das so?
Auch wenn wir es nicht so gern zugeben, wir haben von allem einen ersten, häufig stark prägenden Eindruck. Vielleicht ist es nicht schwer, sich das als Fakt einzugestehen, jedoch wir haben ja nicht nur den Eindruck, sondern wir bilden uns danach auch in den meisten Fällen ein Urteil. Was wir in Wahrheit nicht so gern eingestehen, ist, dass wir nicht besonders gut darin sind, ein derartiges Urteil zu revidieren. An der einmal gefassten Meinung oder Sichtweise ist kaum zu rütteln.
Wider besseres Wissen!
Aber das ist die menschliche Sturheit und Unbeweglichkeit. Sie kennen das.
„Michèle, schau mal, was wir dir aus Spanien mitgebracht haben!“ Meine Großmutter reichte mir vor ewigen Zeiten stolz eine ziemlich große Dose mit Tomatensaft. Die Großeltern gehörten der Generation an, welche als erste im Rentenalter Spanien, die Balearen und später auch die Kanaren als Flugreiseziel entdeckte. Ich bekam also echten spanischen Saft von sonnengereiften Tomaten – und reagierte etwas skeptisch. Dickflüssige, sämige Gemüsesäfte waren damals bei mir nicht der Hit. Frischgemüse (Tomaten inklusive), knackig und als solches noch erkennbar, hingegen schon.
„Oh, vielen Dank!“, erwiderte ich natürlich freundlich und stellte die Dose unauffällig zur Seite auf ein Tischchen.
„Probier doch mal!“, feuerte meine Oma mich an, „den haben wir extra mitgebracht!“ Anklagender Blick. „Der schmeckt sehr gut und ist gesund!“
Lange Rede, kurzer Sinn – meine Oma gab nicht eher Ruhe, bis ich mir eingeschenkt und davon getrunken hatte.
„Und? Schmeckt gut, nicht?“ Erwartungsvoll schauende Augen warteten auf die richtige Antwort.
Ich fand, das Zeug schmeckte merkwürdig. Eine Pampe, die dazu überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Geschmack von frischen Tomaten hatte. Leicht modrig. Nur – wie schmeckte Tomatensaft allgemein? Würzte man den anders? Ich wusste es damals nicht.
Keiner glaubte mir, als ich zaghaft bemerkte, er schmecke überaus eigenartig. Leider fühlte sich keiner dazu aufgerufen, selbst einmal zu probieren … Ich weiß, ich drückte mich zurückhaltend aus. Sagte nichts von widerlich, ekelhaft, machte noch nicht einmal Grimassen! Dennoch hing der Haussegen schief. Ich solle mich nicht so anstellen, ich solle nicht undankbar sein, ich solle jetzt doch bitte ohne diese Zicken den Saft trinken. Wer hätte schon Großeltern, die extra sauschwere Dosen für ihre Enkelin aus Spanien mitbrächten …
Später sprach keiner mehr von Anstellerei. Das war zu dem Zeitpunkt, als klar wurde, dass der Saft verdorben gewesen war. Stundenlanges Gewürge, tagelange Übelkeit, Fieber, und letztendlich sogar der Besuch des Notarztes entzündeten Diskussionen darüber, wie es dazu kommen konnte.
Für mich hat Tomatensaftgeruch bis heute eine fatale Wirkung. Ich muss mich sehr zusammenreißen und bin im Flugzeug immer froh, wenn neben mir keiner das rote Zeug ordert. Ich kann dort schlecht ausweichen.
Geruch. Für immer eingebrannt und obwohl ich inzwischen weiß, dass ein einziges Mal ein Saft verdorben war und nicht grundsätzlich alle Tomatensäfte zu Erbrechen führen – trotz allem bleibt die erste Reaktion unverändert.
Warum sind wir so empfindlich, was Gerüche angeht?
Unseren berühmten ersten Eindruck, den erhalten wir durch die Nase. Das, was wir riechen, geht den direkten Weg. Direkt auf unser limbisches System, den Ort, an dem Gefühlsregungen, Emotionen weiterverarbeitet werden.
Kommen wir irgendwohin, passiert es: Zack! Unser vorstehender Zinken erfasst die Lage und verschafft sich einen ersten Eindruck. Prägend!
Alle anderen Auffälligkeiten, die wir mit den Sinnen wahrnehmen – seien sie visueller, akustischer oder auch haptischer Art, all diese Nervenreize müssen hingegen erst in der Großhirnrinde unseres Gehirns aufgebröselt werden. Das dauert etwas länger, ist sehr wahrscheinlich auch komplizierter.
Dass wir uns via Geruchserlebnisse bis in die Kindheit zurück an Erlebnisse erinnern und Erfahrungen mit Gerüchen verknüpfen können, liegt für mich auch darin begründet, dass in den ersten drei Lebensjahren das Geruchsgedächtnis gebildet wird.
Die Eindrücke sind gespeichert!
Auch wenn vieles nicht bewusst ist und oftmals lange Jahre lang im Verborgenen schlummert – beim Zusammentreffen mit dem Geruch wird es hervorgeholt.
Der Nachteil an diesem direkten Weg ins Stammhirn und dem nicht steuerbaren, unbewussten Vorgang ist der, dass wir zwar nun das Erlebnis, den Ort oder einen Menschen passend zum Geruch aus dem Gedächtnis hervorkramen können, doch es funktioniert nicht, sich einen Geruch speziell aufzurufen. Eine vage Vorstellung ja, aber kein wirkliches Geruchserlebnis, nichts Echtes.
Wie ich auf das heutige Thema komme?
Es gibt nicht nur Gerüche allein. Oft ist es auch eine Kombination aus Geruch und Geräusch oder Gegenstand und Geruch/Geräusch, die Erinnerungen weckt.
Das Beamen in die Vergangenheit schafften bei mir vor ein paar Tagen ein Nilpferd (Gegenstand und Geräusch) und der Anblick und das Befingern einiger Hagebutten (Gegenstand plus Geruch)
Im Falle des Nilpferds, sehe ich immer einen meiner Englisch-Lehrer vor mir, der sehr auf seinen Doktortitel bedacht war. Wir mussten ihn immer komplett mit Herr Dr. XY anreden, sonst gab es gewaltig Ärger. Er war insgesamt etwas schwierig, oder wir waren es in dem Alter. Oder beide(s) …
Der Herr Doktor war weiterhin äußerst korpulent. So sehr, dass er gelegentlich in der Türöffnung hängenblieb, wenn die Tür nicht vollständig geöffnet war. Seitdem dies das erste Mal passiert war, nannten wir ihn heimlich Doc Hippo (von Hippopotamus = Nilpferd) und mussten uns jedes Mal bei seinem Eintreten das Lachen verkneifen. Es klappte so lange, bis wir ein englisches Lied bei ihm lernen sollten. In dem Song geht es um die Arche Noah und die in das Holzboot steigenden Tiere. Wir kamen damals bis zu genau dieser Strophe, dann war es mit der Contenance vorbei:
The animals went in four by four, hurrah! hurrah!
The animals went in four by four, hurrah! hurrah!
The animals went in four by four, the great hippopotamus stuck in the door
And they all went into the ark, for to get out of the rain.
Na bitte, die Türgeschichte wurde sogar im Lied festgehalten … Diese Strophe in Zusammenhang mit einer gefassten Miene erforderte schier unglaubliche Willenskraft. Ich denke, die Leistung war damals oscarverdächtig.
Ja, und nun singe ich sie äußerlich bierernst seit letzten Montag (trotz Hustenanfällen, der Infekt ist noch nicht ganz weg).
Die Hagebutten, die ich gesehen und gerochen habe, möchte ich Ihnen gleich zumindest zeigen. Hagebutten erinnerten mich lange Zeit nur an den blöden Jörg, der mir daraus selbstgemachtes Juckpulver in den Kragen schob. Unschöner Geruch und ein ekelhaftes Gefühl!
Den doofen Jörg fand ich später dann netter …
Haben Sie das auch gemacht? Ich meine, nicht mir jetzt das Pulver … ich meine, ob Sie auch selbst Hagebutten ausgenommen haben, um aus den Körnern und behaarten Teilchen ihr Privatjuckzeug zu kreieren?
Beichten Sie mal! ^^

Kartoffelrose im Winter – die aufgesprungenen Reste der Hagebutten. Die kleinen Nüsschen im Innern besitzen reichlich Widerhaken und sind mit feinen Härchen bedeckt, die auch den Juckreiz auslösen, sobald sie mit der menschlichen Haut in Berührung kommen.
Beim Vorbereiten der Fotos für diesen Blogpost entstand das schwarz-weiße Sonderbild, das Sie ganz oben am Beginn des Artikels sehen können. Auf einmal hatten die verdorrten Hagebutten in ihrem Winterzustand das Zeug zu einem Kunstwerk …
Außerdem vermitteln sie etwas sehr anschaulich:
Sie zeigen, dass Dinge veränderlich sind. Dass sie im Laufe der Zeit ihre Eigenschaften ändern können. Sie zeigen, dass die Möglichkeit besteht, Bekanntes durchaus auch anders zu sehen. Ungeachtet der Erfahrungen, die sie ursprünglich einmal mit sich gebracht oder der Erinnerungen, die damals hinterlegt wurden. Inzwischen sind im Leben tausend weitere Erfahrungen hinzugekommen. Vielleicht lässt sich dadurch manches relativieren und einseitige, negative Reaktionen und Gefühle wie Abscheu, Ekel oder gar Angst gehören der Vergangenheit an!
Ich wurde übrigens mittlerweile – was Hagebutten angeht – etwas umgepolt. Ich bekam vor einiger Zeit ein sehr liebevoll erschaffenes Werk aus Hagebutten, das hat mich geheilt. Es taucht zwar weiterhin auch die Juckpulver-Variante mit in der Erinnerung auf, nur nicht ausschließlich und zudem weitaus blasser. Selbstverständlich bleibe ich nun schneller und viel länger an dem Schönen hängen …
Nutzen Sie nur diese Chance, speziell über Gerüche, aber auch über Geräusche oder Gegenstände gelegentlich in die Vergangenheit einzutauchen. Oft ist das der einzige Weg! Denn Unbewusstes lässt sich ansonsten nicht gezielt ansteuern.
Dieses Zurückgehen hat überhaupt nichts damit zu tun, dass die Gegenwart nicht gemocht oder die Zukunft gefürchtet wird!
Es geht nur darum, Verschüttetes zu finden, das uns unter Umständen bis heute in unserem Alltag beeinflusst …
Und nun zum guten Schluss:
Ich wünsche Ihnen Frohe Osterfeiertage! Bis zum nächsten Mal – und bleiben Sie gesund!
©März 2013 by Michèle Legrand