Beiträge getaggt mit Gedanken

Über die Ruhe nach dem Sturm, Pflichttalk, gebackene Kinder, Wipfelschlafen und anderes …

Michèle Legrand ©Foto Andreas Grav (Ausschnitt) - Dezember 2013Das war’s. Der Sturm hat sich endgültig ausgetobt, jetzt herrscht erstaunliche Ruhe. Schluss mit Xavers hohem Pfeifen und seinem ausgeflippten Gerüttel an den Fenstern. Keine um sich schlagenden Äste mehr, die nach einem auslangen, Nichtsahnende beschmeißen oder nächtens penetrant ans Regenabflussrohr dreschen und somit wach halten. Wohler fühlen sich mit Sicherheit auch wieder die Mieter höher gelegener Etagenwohnungen, denn das gefühlte Wanken, dieses zwar leichte, aber ziemlich unangenehme Erdbebenfeeling entfällt.
Und dann die Sturmflut!
Die Deiche haben gehalten, das Wasser ist auf dem Rückmarsch! Für die größeren Nordseeinseln und auch die kleinen Halligen kam endlich Entwarnung. Hier in Hamburg gibt es keine überfluteten Straßen und vollgelaufenen Keller mehr. Schluss ebenfalls mit den herrenlosen und in der Dunkelheit gespenstisch vor sich hintreibenden Fahrzeugen in Elbufernähe.
Für Hamburger gab es in den vergangenen Tagen schon ungewohnte Anblicke unten am Hafen. Am Sonnabend, etwa um 10 Uhr vormittags, also Stunden nachdem die dritte und letzte der prophezeiten starken Fluten gegen sechs Uhr in der Früh ihren Höhepunkt erreicht hatte, stand das Elbwasser immer noch so hoch, dass die Landungsbrücken, die die Uferpromenade mit den weiter draußen gelegenen Anlegepontons verbinden und normalerweise starkes Gefälle Richtung Wasser aufweisen, plötzlich eine vollkommen waagerechte Verbindung darstellten! Das Hochwasser nutzte die vorhandene Mauerhöhe an der Promenade völlig aus!
Ein Blick hinüber zur Werft Blohm + Voss verdutzte, denn der weiße Namensschriftzug auf der dunklen Mauer, der sonst sogar bei Flut vollständig herausragt und in dem Fall selbst unter sich noch reichlich Luft hat, wurde zu diesem Zeitpunkt bei ablaufendem Wasser immer noch bis zur Mitte des Buchstaben B von den Fluten abgedeckt.
Wie mag es da erst während der extremen Sturmflut am Freitag gewesen sein? Wahrscheinlich lief es oben über den Rand der Flutschutzmauer …

Doch vorbei. Wir können nun entspannen. Und deshalb möchte ich mich heute mit Ihnen einfach nur ein wenig privat unterhalten. Neben der Ausnahmewettersituation, brachte die Woche für mich einen Schwung Pflichttalk, und wenn Sie regelmäßig im Blog lesen, werden Sie einen Unterschied bemerkt haben: Der letzte Blogpost war ein Bericht. Neutraler. Ohne Gedankensprünge. Er war als eine kleine Teilhabemöglichkeit für Sie an einer von mir eher beruflich besuchten Veranstaltung gedacht.
Doch jetzt giere ich nach anderen Sachen!
Wissen Sie, wenn Sie etwas nicht in Ihrer Freizeit und nicht aus völlig freien Stücken zu tun beschließen, dann könnte man die sich daraus ergebenden, beruflich bedingten Unterhaltungen – ohne es gleich negativ zu meinen! – als Pflichttalk bezeichnen. Pflichttalk ist etwas, was durchaus zeitlich begrenzt Spaß macht – zumal wenn Sie ein grundsätzlich auf alle Arten von Menschen neugieriges Wesen sind und das anstehende Oberthema Sie halbwegs anspricht. Es ist praktisch, wenn mitteilungsfreudige Menschen anwesend sind.
Nicht nur mitteilungsfreudig!
Sie sollten selbstverständlich auch inhaltlich etwas zu sagen haben! Ja, dann ist es inspirierend!
Befinde ich mich allerdings offiziell bei Veranstaltungen in einer großen Menschenmenge und das Thema ist jetzt – sagen wir es vorsichtig – nicht hundertprozentig meins (trifft max.  zu 20 % meinen Nerv), lassen mich zudem die äußeren Umstände eher verhalten reagieren und liegt der Lärmpegel dauerhaft höher, als meine Ohren es gustieren, dann befällt mich nach einer Weile der zwanghafte Wunsch, den Sicherungskasten zu suchen.
Da gibt’s doch einen Schalter, der … Klack!
Zack! Ruhe … Kleiner unschuldiger Blick in die Runde. Huch …
Oder ein plötzlicher Gedanke taucht auf, eine Frage, die ich mir – lautlos natürlich! – selbst stelle:
So, und wo geht es hier jetzt in den Garten …?
Der Wunsch als Vater des Gedankens. Sicher, man ruft sich sofort zur Ordnung, doch nicht einmal eine Minute später wispert irgendein boshafter, kleiner Zwerg:
Hey, was machst du hier eigentlich? Du gehörst ins (z. B.) Tropenschauhaus, du …! Gib’s zu, dich interessiert die Menschenfressertomate doch viel mehr als ein hippes Outfit und/oder Dauerzahnpastalächeln.
Tja, gut, dass einem nicht immer gleich anzusehen ist, was das Hirn für wirres Zeug denkt. Wie ungünstig, würde es alles laut herausposaunen … Der beruflich anwesende Gast macht natürlich profimäßig weiter, lechzt nur still nach den eigenen vier Wänden und das war es. Fast jedenfalls.
Sie sind im Grunde die Leidtragenden, denn Sie müssen im Nachhinein hier im Blog alles ausbaden! Dann hole ich das vermisste, normale Gespräch nach und lasse alles Eingesperrte, was vorher nicht heraus durfte, auf Sie los.
Bitte?
Was ein normales Gespräch ist? Unter sich sonst fremden Menschen?
Das ist ein ungestellter, oft sehr spontaner Austausch mit dem Gegenüber, eine Unterhaltung, der aktuelles, echtes Interesse zugrunde liegt und ein Gespräch, das ohne jegliche Berechnung zustande kommt. Ein Gespräch, dessen Anlass durchaus eine gerade miterlebte Situationskomik sein kann. Irgendetwas geht ja immer voraus … Dann wird daraus ein angeregtes Plaudern und beim Erzählen entstehen sie plötzlich – die Gedankensprünge. Man kommt von einem zum anderen, es geht lebhaft zu und worauf man als allerletztes achtet, ist:
Wie sehe ich jetzt dabei aus?
Ein Gespräch ist nicht authentisch, wenn penetrant auf Wirkung und anwesende Kameras geachtet bzw. ständig posiert wird! Sie können den Unterschied auch anhand des Beispiels mit der Menschenfressertomate ausmachen:
Manche Leute wollen die Tomate nur anschauen – oder sie fotografieren, so wie sie ist. Andere wollen sie erst stylen, sich daneben stellen und dann geknipst werden. Also mit aufs Bild, aber zweite Geige spielen. Und noch andere Menschen möchten äußerst dringend fotografiert werden – doch da ist die olle Tomate! Sie würden die Pflanze vorher schnell noch eigenhändig mit dem Hackebeil umlegen, wenn dadurch die Chance bestünde, dass sie auf dem Foto mehr Aufmerksamkeit als das Gemüse erzielten. Die Tomate ist schnuppe.
Und mit den letztgenannten Personen ist es für mich regelmäßig anstrengend, denn ich bevorzuge Tomatenfotos.

Genug davon. Ich war Besorgungen erledigen vorhin. Im meinem Einkaufszentrum wurde auf einer Veranstaltungsfläche alles weihnachtlich hergerichtet. Stände mit Kerzen, Schmalzgebäck, und ein kleiner Bereich ist mit einem hellen Senkrechtlattenzaun abgeteilt. Ein Häuschen steht auf diesem Grund, einige Bänke im „Vorgarten“.
Dort können kleine Kinder Weihnachtsleckereien produzieren. Kekse dekorieren. Teig rühren. Eine neue Gruppe hatte gerade begonnen.
Außen vor dem Holzzaun stand eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn an der Hand, den sie davon überzeugen wollte, dort mitzumachen.
„Du, das macht ganz viel Spaß! Und die helfen dir ja bei dem Teig.“
„Kann man da auch Sterne machen?“
„Bestimmt, und da gibt es bunte Streusel zum Draufstreuen.“
„Lassen die mich denn auch mitmachen?“
„Natürlich! Dafür ist das hier doch extra aufgebaut worden. Für euch Kinder!“
„Aber der da ist größer … Und ich kenn die doch gar nicht!“
„Die anderen kennen sich auch nicht alle. Aber du, die wirken doch sehr nett!“
Die Mutter ist geschickt, und man merkt ihr an, wie gern sie den Nachwuchs überzeugen möchte. Sie hat es auch fast geschafft. Dann allerdings kommen zwei junge Herren vorbei, bleiben ebenfalls stehen und lesen das Schild, das vor der Hütte aufgestellt ist: KINDERBACKSTUBE
„Du, schau mal“, sagt der eine zu seinem Freund. Er zeigt auf die Schrift und ergänzt gut hörbar: „Dort werden Kinder gebacken.“
Nun, das war’s.
Der Kleine hat es gehört und zieht seine Fast-Zusage zum Backen sofort wieder zurück. Da helfen auch keine Erklärungen. Nee, nee. Das Risiko ist ihm zu groß. Vielleicht kennt er die Sache mit Hänsel und Gretel …

Ich schaue gerade während einer kleinen Bildschirmaugenerholpause ein wenig aus dem Fenster ins Geäst einer Rotpflaume, in der  Gimpel herumhüpfen und an den dünnen Zweigen picken. Die Vögel waren während der Sturmtage verschwunden.

Gimpel (Dompfaff) nach dem Sturm - 08.12.2013

Gimpel (Dompfaff) nach dem Sturm – 08.12.2013

Ich frage mich manchmal, ob es Vögeln bei solchem extremen Gewackel in den Ästen auch schlecht werden kann oder denke darüber nach, ob es Exemplare gibt, die beispielsweise unter Höhenangst leiden. Doch eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen …
Wissen Sie warum?
Ich habe geträumt, als es so stürmte. Auslöser war offensichtlich – neben dem Sturmgeheul – ein Bericht aus Frankreich über das sogenannte Wipfelschlafen. Ich hatte darüber wenige Tage zuvor gelesen. Im Naturpark Lubéron in der Provence kann man in etwa zehn Meter Höhe auf Bäumen in Hängematten übernachten.
Vorher lernt man natürlich die Klettertechnik, um überhaupt auf den Baum heraufzukommen!
Man hat in der Matte zusätzlich einen Schlafsack und ist obendrein angeseilt. Es kann theoretisch nicht passieren, dass Sie im Schlaf herauskullern und abstürzen. In Träumen läuft es natürlich anders.
Da begann zunächst aus heiterem Himmel ein Mördersturm!
Ich wurde durchgeschüttelt, war selbstverständlich nicht angeschnallt, wurde abgehoben und sauste durch die Lüfte. Doch – das ist jetzt wiederum das Schöne am träumen – ich konnte fliegen!
Und hatte keine Angst!
Deshalb bin ich nun der Überzeugung, dass wir Menschen nur deshalb Höhenangst empfinden, weil wir Angst vor dem Absturz und dem tödlichen Aufprall haben. Wüssten wir – wie Vögel es von sich wissen – dass wir fliegen, also heil landen könnten, entstände das Angstgefühl mit Sicherheit nicht.
Warum auch! Höhe wäre nicht mehr gleichzusetzen mit Gefahr.
Der Gimpel vor meinem Fenster hat eben gerade noch einmal eine einzelne, recht hinterhältige Restböe abbekommen. Der Zweig, auf dem er saß, wurde hin und hergepeitscht und er nach links und rechts geschwenkt.
Hey, schau mal her!
Nein, er wirkt magenfest und scheint auch nicht beunruhigt …

Genug für heute, oder?  Ich bitte Verständnis fürs Lechzen nach Normalität.  Sie haben es hoffentlich unbeschadet überstanden.

Ich wünsche Ihnen weiterhin eine schöne Adventszeit!
Lassen Sie es sich bis zum nächsten Mal gutgehen …

©Dezember 2013 by Michèle Legrand

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Nee, du, hab‘ gleich noch ein Shooting …

Michèle Legrand - Michèle. Gedanken(sprünge) @wordpress.comIch habe mir für heute ein Phänomen herausgepickt, über das ich just erneut gestolpert bin.
Auf dem Heimweg überquerte ich an einem Bahnübergang zu Fuß die Gleise. Ein Stück von mir entfernt standen mitten auf der Strecke zwischen den Schienen drei Mädchen im Teenageralter. Eine der jungen Damen war mit einer schon recht professionell wirkenden Kamera ausgerüstet, die zweite hielt einen Rucksack, ein Paar Turnschuhe, eine Art Federboa und eine Bürste, die dritte im Bunde wurde abgelichtet. Posierte mit High Heels im Gleisbett, wachspuppengleich geschminkt. Dramatische Wimpern. Derart dicht mit Mascara beschwert oder durch künstliche zusätzlich ergänzt, dass ein komplettes Aufklappen der Augenlider aufgrund des überschrittenen zulässigen Wimperngesamtgewichts nicht mehr möglich war.
Es zog die Deckel schier herunter!
Folglich wirkte es, als ließe sie kontinuierlich einen überzogen trägen Schlafzimmerblick in die Ferne schweifen, einen sehnsüchtigen Blick in Richtung bisher nicht erscheinender Regionalbahnen – während der Kameraverschluss neben ihr fortwährend klickte.
Sie trug viel zu dünne Sachen angesichts der herrschenden Temperaturen.
„Wie viele Aufnahmen willst du denn noch machen? Ich friere langsam!“
Für einen Moment wich der laszive Blick, die Wimpern wurden mühevoll angehoben, die Lider krampfhaft geöffnet gehalten. Sie langte entschlossen nach der Federboa und schmiss sie sich um den Hals. Ein paar Flusen stoben auf.
„Nur noch ein paar … Dreh dich mal! … Nein, so!“
Energischer Griff an den Ellenbogen gefolgt von weiteren Anweisungen wie: Arm nach hinten, Bein einknicken, Schulter zurück, Kinn vor, die Boa langziehen etc.
Das Läuten, das ein Schließen der Bahnschranken ankündigt, ertönte.
„Scheiße, schon wieder ein Zug!“
Mitten im Shooting. Allseits genervtes Räumen der Gleise …
Ein Fototermin der besonderen Art.

Schwenk. Vor wenigen Tagen gingen zwei junge Männer vor mir in Richtung einer Rolltreppe. Recht nett anzusehen die beiden, aber nicht außergewöhnlich. Der eine erzählte seinem Kumpel, was er noch vorhatte am Nachmittag und fragte nach:
Kommscht auch?“
„Nee, du, hab‘ gleich noch ein Shooting!“
„Schuting? Kannsch mich midnäme?“
Offenbar jemand aus dem badischen Raum.
„Muss ich erst den Fotografen fragen.“
Ein Anruf per Handy klärte die Lage. Der andere durfte mit. Ein Außentermin an der Alster. Kam auf einen mehr oder weniger auch nicht an. Die Gegend ist geräumig dort …

Kennen Sie das? Ist es Ihnen auch schon aufgefallen?
Scheinbar alle Welt redet plötzlich von Shootings! Hat solche Shootings!
Und Models wachsen wie Kraut aus dem Boden!

Shooting. Ein Anglizismus! Shocking!
Er ist nicht neu, allerdings hat seine Verwendung enorm zugenommen! Sein Verbreitungsraum ist gewachsen und die Häufigkeit seines Einsatzes signifikant gestiegen. Trotz aller Vorbehalte, die gegen fremdsprachliche, sich bei uns klammheimlich einschleichende Begriffe, existieren. Trotz aller Aufschreie, der Furcht vor dem Aussterben der deutschen Sprache und dem eiskalten Hauch – quasi ihrem schon fühlbaren, herannahenden, mindestens partiellen Tod! – der bereits in den Nacken bläst.
Vorbei die Zeit, in der das Volk davon sprach, es hätte einen schnöden Termin beim Fotografen des Vertrauens.
Vorbei die Zeit, in der die Menschheit ohne großen Ehrgeiz oder Eitelkeit entspannt auf einem Stuhl Platz nahm und lediglich vorhatte, freundlich in die Kamera zu blicken (… und es ihr mit mehr oder minder großem Erfolg auch gelang).
Vorbei die Zeit, in der Menschen unterschiedlichen Alters Fotos vom Fotografen lediglich für Ausweise, Visa, Bewerbungsunterlagen und zum Erfreuen der Großeltern benötigte und sie sonst niemand genauer anschaute. Denn jene Fotos waren persönlich eher nebensächlich. Von wirklicher Bedeutung waren die Schnappschüsse von Familien- und Lebensereignissen, Bilder von gemeinsam verbrachten Veranstaltungen mit Freunden, Erinnerungsstücke.
Vorbei auch die Zeit, als Fotografen noch wirkliche Fotografen – sprich allesamt Profis – waren!
Vorbei …
Now it’s shooting time!

Ahnen Sie, wie ein Wandel generell abläuft? Überlegen Sie mal …
Ein Wandel und auch die Umbenennung einer Sache erfolgen schleichend. Ehe ein neuer Begriff wahrgenommen wird, ehe diese Vokabel im Gedächtnis als Alternative zum bisher Üblichen gespeichert, ehe sie erstmals selbst genutzt wird, braucht es Zeit. Ehe sie schließlich nicht nur zufällig bzw. einmalig etwas ersetzt, sondern letztendlich als Dauerbrenner für alles und jedes gebraucht wird – bis dahin muss der Mensch erst einmal oft genug mit ihr in Kontakt gekommen sein. Sie muss aus ihrer anfänglichen Nischenexistenz hervorkommen. Sich an- und einschleichen. Ihr Schattendasein beenden und ins Scheinwerferlicht treten. Der Begriff muss begriffen werden. Von allen Seiten betastet.
Wie fühlt er sich an, wie griffig ist er? Ist er passend und zeitgemäß, d. h. ist die Zeit reif für ihn? Was sagt er aus?  Ist er eine Universallösung, die vieles abdeckt? Langes Reden erspart? Das erhöht seine Chancen, sich durchzusetzen.
Wird eine Person oft genug mit einem Neuling dieser Art konfrontiert, kommt es nur in relativ seltenen Fällen zu einer Aversion (Das geht mir dermaßen auf den Zeiger, hör mir bloß auf damit!). Generell erwärmt sich der Mensch im Laufe der Zeit für das neue Wort. Der Einnistungserfolg. Danach kommt der Weichklopftrick. Immer wieder vorsetzen. So gesellen sich in Nullkommanichts ein Gewohnheitseffekt und die Nachplappertendenz hinzu. Das Hirn ist eingenebelt. Der Begriff wabbert herum, dockt an.
Rumms!
Shooting! Shoo-ting.  Shoo … shoo… shoo … ting! Shooootinnnngg!
Er verharrt abrufbereit in Warteposition, bekommt gefühlt Klang, wird per Zungenbewegung unbewusst vorgeformt bis … ja, bis das Wort irgendwann das erste Mal benutzt und laut ausgesprochen wird.
Eher aus Versehen! Huch!
Doch – es ist nichts passiert. Keiner hat sich beschwert. Eigentlich klingt es sogar recht international, imposant – geht dafür jedoch erstaunlich leicht und flüssig über die Lippen. Und obendrein hat die Umgebung recht interessiert reagiert! Aufgehorcht!
Zack! Passiert!

Es hat sich unwiderruflich durchgesetzt, die Hemmschwelle wurde überwunden! Die Barriere niedergerissen! Fremdeln war einmal.

Der nächste Schritt: Mittlerweile glaubt der Mensch, nur dieses neue Wort trifft tatsächlich den Kern. Und nicht nur den. Es sagt mehr, ach was, es sagt alles! Und gleichzeitig irgendwie … nichts! Erstaunlich.
Es lässt gewissen Spielraum für eigene Vorstellungen. Allein dieser Begriff hat das gewisse zusätzliche Etwas, das jenes ursprünglich verwendete Wort Foto(grafen)termin – unser Beispiel – eben nicht hat. Angeblich. Das Neue sagt – nüchtern betrachtet – nichts anderes, doch hört es sich more important an. Diesem Ausdruck haftet offenbar irgendwie etwas Glitzerndes an und das vorrangig durch seinen öffentlichen Gebrauch in Medien verschiedenster Art. Im Fernsehen! Nicht zu vergessen die Tatsache, dass es zur Sprache der von einigen sehr umschwärmten Prominenten gehört!
„Mein Shooting mit XY war grandios.“  Zahnpastalächeln. Dauerpose.
„Dass ich mit ABC shooten durfte … ! 
Alle waren so zauberhaft!“  Rührung. Glorienschein.
„Ich wollte auch noch Ä, Ü und Ö wahnsinnig danken, ihr seid ein tolles Shooting-Team!“ etc.

Fühlt man sich bei der Verwendung des Wortes Shooting nicht auch sofort als Mitglied dieser schönen bunten Scheinwelt? Ist man nicht gleich ein bisschen wichtiger, gehört einem besonderen Kreis an?
Einem Kreis der dummerweise nur sehr schnell so groß wird, dass er gar nichts Besonderes mehr ist! War dieser imaginäre Kreis, als er noch klein, fein und illuster war, im Bereich der Werbefotografie (Mode und andere Sparten) oder der Öffentlichkeitsarbeit anzutreffen, so lässt er sich heute nicht mehr begrenzen. Der Ausdruck Fotoshooting wird uneingeschränkt genutzt und ist scheinbar überall tauglich und vor allem dort beliebt, wo jemand versucht, seiner Person und seinen Aktivitäten mehr Gewicht und seinen Fotos mehr Beachtung zukommen zu lassen. Jedenfalls mehr, als bisher üblich waren.
Und warum versuchen alle, mehr Beachtung zu finden?
Weil die eine Hälfte der Welt plötzlich Model werden will oder annimmt, das Zeug dazu zu haben!
Und weil die andere Hälfte sich, sobald sie eine Kamera auch nur halten kann, für einen Starfotografen hält.
Ein Shooting in der Biografie erwähnen zu können, ist schon die halbe Miete. Ein Anfang. Je mehr, umso besser natürlich. Die Bilder sind schließlich alle für die Setcard. Stopp! Fehler! Ein gern und häufig vorkommender auf Seiten der neuen Shooting-Generation, die eben nicht mehr nur aus Profis besteht. Also bitte merken: der korrekte Ausdruck ist Sedcard, auch wenn die Fotos am Set entstehen.

2006 lief in Deutschland die erste Staffel von Germany’s next Top Model an. Der Startschuss einer neuen Entwicklung, die sich in den Jahren danach mehr und mehr breitmachte. Mode und Models als Thema und Anliegen der Allgemeinheit. Breit diskutiert. Natürlich auch die Anforderungen an das Aussehen! Stichwort Schönheitsideal!
Das Model Business ließ sich in die Karten schauen. Die Ansprüche an junge Models wurden verdeutlicht, ihre Arbeit präsentiert – und die der Fotografen! Aus dieser Ecke tauchte es vermehrt auf. Das Shooting. Das Wort wurde salonfähig. Erst im Fernsehen, dann auf der Straße. Anfangs wurde es gierig von der Generation der mitfiebernden Teenies und Twens aufgesogen, wenig später schlich es sich fast unmerklich auch in den Wortschatz der Eltern und sogar Großeltern! (Gespräch neulich am Rande des Model Contest Finales: Meine Enkelin macht das ja jetzt auch. Sie hatte so ein Shooting neulich …)

Als im Laufe der Jahre mancherorts zusätzlich die Ausrichtung von ähnlich konzipierten Wettbewerben (außerhalb des Fernsehens) startete, welche vielen ohne besondere Geldmittel, Bekanntheit, Kontakte oder Promistatus einen Zugang ermöglichten, die Herren endlich auch mit einbezog und das Internet eine Präsentationsplattform für jedermann darstellte – da war es zu spät, um etwas aufzuhalten. Es schien auf einmal irgendwie jedem möglich, seinen Traum von einer Modelkarriere zu träumen und ihn – wenigstens für eine Weile – mehr oder weniger intensiv zu verfolgen.
Die hinsichtlich des Gewichts, der Statur, der Größe, der Maße etc. gelegentlich schon skurrilen Vorgaben vieler großer Modehäuser und ihrer Designer sowie – daraus folgend – der Agenturen, können natürlich von den weitaus meisten nicht erfüllt werden, doch vielleicht muss man auch nur hartnäckig genug sein und genügend auf sich aufmerksam machen. Auffallen, herausstechen aus der Masse, sich selbst darum kümmern …Ein Shooting vorweisen! Was für eins? Ach, Shooting ist Shooting.

Mittlerweile scheinen diese Regeln zu gelten:
1) Jeder/jede, von dem/der ein Foto geknipst wird, ist ein Model.
2) Jeder/jede, der/die knipst, ist ein Fotograf.
3) Alles was Bilder macht, ist zum Fotografieren geeignet.
4) Jeder der Fotograf ist, hängt „Photography“ hinter seinen Namen, bastelt sich eine Homepage oder Facebook-Seite und postet grundsätzlich alles. Möglichst mehrfach.
5) Jedes Treffen zum Zwecke des Fotoknipsens ist ein Shooting.
6) Jedes Shooting macht einen berühmter. Zumindest bei den Freunden. Die schenken einem dann bei Facebook Likes. Wenn nicht von selbst, dann wenn man genügend bettelt.
7) Jeder/jede, der/die ein Shooting hatte, ist im Grunde schon Topmodel. Dass die großen Agenturen einen immer noch nicht auf der Liste haben, ist nur der Beweis, dass die doch keine Ahnung haben … Oder dass man Sedcard mit „t“ geschrieben hat.

Ich bin heute ziemlich böse, gell? ^^

Ehe „meine“ Talente und vor allem die Finalisten vom Nachwuchs-Modelwettbewerb QUARREE GESICHTER, die heute vielleicht mitlesen, sich ärgern, möchte ich hervorheben, dass ich nicht von ihnen spreche! Sie sind nach den fast acht Monaten Training wirklich keine stümperhaften Laien und Möchtegernmodels mehr. Viele von ihnen wurden schon von namhaften Profifotografen abgelichtet, sind bei aufwändigen Shows außerhalb des Contests gelaufen, verfügen über aussagekäftige, vielversprechende Sedcards, und einige von ihnen sind sogar inzwischen bei Agenturen unter Vertrag!
Ich spreche vielmehr von all jenen, die auf den Zug aufspringen und denen ein  angedeuteter, real aber nicht existierender Profistatus dazu verhelfen soll, erfolgreich mitzumischen. Denjenigen, die vielleicht annehmen, es braucht nicht mehr als die Kenntnis der richtigen Wortwahl, um erfolgreich in einer Branche zu bestehen. Ich sehe es kritisch, wenn mit Begriffen um sich geschmissen und mit allem irgendwie Schindluder getrieben wird.
Alles nur Show. Eine einzige große Show.
Ja?
Oder doch nicht?

Wie ist das nun mit dem Begriff Shooting?  Ich bin mir noch nicht ganz im Klaren, wie sein explosionsartig angestiegener Gebrauch einzuschätzen ist. Und bleibt er? Hat er Überlebenschancen?
Dabei kommt mir möglicherweise ein weiteres Erlebnis vom heutigen Tag zur Hilfe.
Zwei kleine Mädchen stehen bei Karstadt am Mützentisch. Sie sind nicht älter als acht Jahre.
„Hier, setz mal auf!“, sagt die eine und reicht ihrer Freundin eine bunte Strickkappe mit Schirm. Dann zückt sie ihr Handy und ergänzt: „Ich werde dich jetzt shooten.“

Wissen Sie was? Mir wird gerade bewusst, dass ich höchstwahrscheinlich völlig falsch lag. Es hat wohl doch nichts mit Größenwahn, Eitelkeit, Scheinwelten, übersteigertem Selbstbewusstsein, Selbstdarstellung, Wunschdenken, Träumereien oder Wichtigtuerei und Selbstbeweihräucherung zu tun!
Es gibt auch gar keinen Grund, über den Siegeszug des Begriffs Shooting überhaupt verblüfft zu sein! Shooting ist gar nicht mehr das Synonym für etwas, was in einem ganz bestimmten Bereich und unter ganz bestimmten Voraussetzungen stattzufinden hat. Vielleicht soll gar nichts vorgetäuscht werden …
Es ist nur noch ein Wort, dass den Jüngsten schon mit in die Wiege gelegt wurde. Ein Universalwort, dass sie mit der Muttermilch aufgesogen haben. Sie erinnern sich noch an die Aussage, dass es 2006 die erste Staffel GNTM gab? Kinder haben das neue Wort seitdem wesentlich öfter als den alten Begriff vom Fotografieren vernommen. Und rein vom Klang her – ganz ehrlich – passt Shooting nicht wesentlich besser zu all den anderen gängigen Ausdrücken dieser Zeit wie Handy, Outfit, Fashion, Download, Conditioner, Push-up-BH, Learning by Doing, Moonboots etc. ?
Keine Sorge also um die Lebensdauer des Ausdrucks Shooting – er hat sich etabliert. Viel eher können wir langsam nach einem Taschentuch greifen, um für das Begräbnis der Begriffe fotografieren, Foto(grafen)termin u. ä. gerüstet zu sein. Ich vermeide es, sie Begriffe der deutschen Sprache zu nennen. Man kann ja auch aussterbenden Worten, die aus dem Griechischen abgeleitet sind, nachweinen. Es bläst schon ein gewaltig kalter Hauch in der Nackengegend …

Wie werden Sie es denn halten?
Übernehmen Sie den Anglizismus? Oder ist bei Ihnen Old Fashion angesagt?
Nun, falls Sie jemand für ein Shooting haben will, wissen sie jetzt zumindest, was es damit auf sich hat und blamieren sich nicht damit, dass sie entweder zurückschießen wollen oder zumindest ziemlich gebauchpinselt denken, Sie wären nun entdeckt worden für eine große Weltkarriere.
Gehen SIe auf Nummer sicher!
Fragen Sie lieber immer nach, wie man Sedcard schreibt. Und vergewissern Sie sich, dass nicht nur das Handy zum Fotografieren genommen wird. Verzeihung, zum Shooten …!

©November 2013 by Michèle Legrand

 

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Kurzlebiges …

Als ich gestern am Abend auf einmal Grönland vor mir liegen sah, habe ich kurzerhand eine Brücke von dort über Island nach Norwegen geschaffen. Doch, genügend Material war vorhanden. Zumindest, nachdem ich dafür einen grönländischen Berg etwas abgetragen hatte.
Es herrschte Bewegung im Wasser während der Bauphase, und so brach mittendrin leider ein Teil von Islands Süden ab. Dafür gibt es jetzt dort einige zusätzliche kleine Inseln.
Die Arbeit schritt zügig voran. Irgendwie war ich auch leicht im Zeitdruck, denn mein Baustoff schien weniger zu werden. Zum Glück kam ich noch bis zur Westküste Norwegens! Nur beim Anknüpfen der Brücke ans Festland entstand ungeschickterweise eine dicke Beule. Jetzt sieht die Küstenlinie merkwürdig aus.
Sah merkwürdig aus.
Inzwischen ist alles wieder verschwunden. Komplett!

Schon sehr kurzlebig – diese Sachen, die man in der Badewanne aus Schaum konstruiert …

©September 2013 by Michèle Legrand
Michèle Legrand - Michèle. Gedanken(sprünge) @wordpress.com

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Gefühlt wie …

Wann sind Sie das erste Mal darüber gestolpert, haben bewusst diesen Ausdruck wahrgenommen?

Gefühlt echt ... (Bronze Mann auf Giraffe von Stephan Balkenhol, 2000)

Gefühlt echt … (Bronze „Mann auf Giraffe“ von Stephan Balkenhol, 2000)

Gefühltes Etwas. Gefühlt wie …
War es in einem Zeitungsartikel, der die gefühlte Inflation erwähnte?
War es beim Wetterbericht, der Ihnen verkündete, die Temperatur läge am Morgen bei 0°C, aber gefühlten -4° Celsius?
Geschah es im Frühjahr nach der Umstellung von Winterzeit auf Sommerzeit? Als Sie morgens aufstehen mussten bei gefühlter noch Nacht?
Oder fiel es Ihnen eher kürzlich Ende Oktober auf, als Ihnen die Stunde zurückerstattet wurde? Wie war das?
Gefühlt wie geschenkt?
Vielleicht erlebten Sie die Bekanntschaft mit diesem Begriff nach unheimlich anstrengenden Tagen, wenn der Kopf gefühlt wie leer war.
Nein! Ich tippe auf eine ausgiebige Party mit durchzechter Nacht, nach der Sie sich vorkamen wie gefühlt 100.
Oder gefühlt tot.
Ein Gefühl, welches häufig in derartigen Situationen erwähnt wird, dessen genauen Zustand jedoch die wenigsten wirklich kennen dürften.

Merkwürdig, merkwürdig …

Derartiges ist relativ häufig im täglichen Sprachgebrauch zu finden. Warum, dazu kommen wir gleich.
Es gibt Unterschiede.
Sie finden  zum einen Weniges, was gefühlt vom tatsächlichen Zustand, Wert, o. a. abweicht und  sich  physikalisch oder auf andere Art erklären lässt – oder  sich gelegentlich zumindest den Anschein gibt, etwas zu sein, was auf irgendeine Weise wissenschaftlich fundiert und nachvollziehbar wäre.
Die schon erwähnte gefühlte Inflation gehört dazu. Sie ergibt sich aus der Tatsache, dass Dinge Ihres täglichen Gebrauchs im sogenannten Warenkorb, der zur Berechnung der Inflationsrate herangezogen wird, nicht verteten sind. Diese – dummerweise gerade Ihre speziellen Einkäufe – sind im Schnitt teurer geworden als das errechnete Mittel, was Ihnen das Gefühl beschert, die Inflationsrate sei viel höher. Es trifft Sie im Grunde aber nur (zufällig) stärker.
Sie kaufen aber auch seltsame Artikel!
Was die gefühlten Temperaturen angeht, gibt es tatsächlich eine Formel, nach der kalkuliert wird, wie exakt (wahrscheinlich) der Mensch die tatsächliche (=gemessene) Gradzahl empfindet.
Sie ahnen es vermutlich, es gibt einen Zusammenhang zwischen Ihrem Empfinden, Ihrem Körperbau, der realen Gradzahl und vor allem den ansonsten noch vorherrschenden anderen Witterungseinflüssen.
Bei feuchter Kälte (Luftfeuchtigkeit spielt eine große Rolle), ungemütlichem Dauerniederschlag und gleichzeitigem Wind (entscheidend ist die Windgeschwindigkeit) sowie entsprechend trostlosem, grauem Himmel (auch die optische Wahrnehmung beeinflusst), kühlt Ihr Körper enorm schnell aus. Prompt sackt die Gefühlt-wie-Gradzahl rasant in den Keller, und der Bibbereffekt tritt schon ein, obwohl Sie sonst gerade erst in sich gehen, ob Sie Ihre Daunenjacke nun bis oben schließen sollen oder nicht.
Umgekehrt bringen ein bisschen Sonnenschein, eine aufgelockerte Wolkendecke, Trockenheit und Windstille eine reguläre Temperatur von 0°C locker auf gefühlte +5°C. Also Daunenjacke wieder auf …
Wenn Sie zufällig an solch einem Tag obendrein noch über ein intensiv hüpfendes Herz und in Wallung geratene warme Gedanken verfügen, wird für Sie aus November im Nu gefühlt Frühling.

Gefühlt gefährlich ... (Warnung vor dem Pinguin)

Gefühlt gefährlich …!

Was stellen wir fest?
Handelt es sich um Themen wie Zeit, Alter, Temperatur, Geschwindigkeit, Gewicht, Geschmack, Lautstärke, Geruch, etc., begegnet uns überall dieses gefühlt wie – allerdings dort in vergleichender und beschreibender Form.
Ohne jeglichen Anspruch auf wissenschaftlich korrekte Auslegung, Berechnungen oder Ergebnisse.
Es ist schlicht und einfach unsere Art der bildhaften Darstellung dessen, was wir empfinden. Ursprünglich unser Bedürfnis, dieses ganz persönliche Empfinden anderen mitzuteilen und vor allem verdeutlichen zu wollen. Plastisch darstellen. Und diese zweite Variante des Gefühlt wie-Ausdrucks, kommt ständig vor. Die meisten Menschen nutzen sie täglich im Gespräch mit anderen.

Diese Ansichten!
Gefühlt wie im Mittelalter!
Die Ausstattung ist ziemlich rückständig.
Gefühlt 60er Jahre.
Sind Sie bereits zur Tagesschau müde?
Ja, gefühlt wie um 23.00 Uhr.
Es ist so heiß und stickig hier!
Gefühlt wie in der Sauna.

Hamburg: Gefühlt asiatisch ...

Hamburg: Gefühlt asiatisch …

Wie benimmt sich denn der?
Gefühlt wie ein Fünfjähriger.
In dem Kleid komme ich mir steinalt/unscheinbar vor.
Gefühlt wie Uroma/Aschenputtel.
Brr, ist das kalt hier!
Gefühlter Kühlschrank.
Es geht überhaupt nicht voran mit der Schlange.
Gefühltes Schneckentempo.
So kriege ich das nicht hoch! Zu schwer!
Gefühlt wie Blei.
Die Haut ist spröde und rau.
Gefühlt wie Sandpapier.
Es schmeckt extrem sauer.
Gefühlt wie Essig.
Den Lärm hält doch keiner aus!
Gefühlte 100 Dezibel.
Mensch, das dauerte wieder!
Gefühlt ewig.
Zu der Vernissage kam kaum jemand.
Gefühlt allein.
Das kriege ich nicht auf die Reihe/Ich weiß es nicht.
Gefühlt doof.
u.s.w.

Es liefert uns eine Vorstellung. Eine nicht allgemeingültige, objektive Einschätzung, sondern ausschließlich die Wahrnehmung des Menschen, der sie verkündet.
Sie kann mit unserer übereinstimmen, muss es aber nicht automatisch! Sie muss überhaupt nicht stimmen!
Gefühlt wie ist nicht Tatsache, gefühlt wie ist es kommt mir so vor.

Alles, was wir mit den Sinnen wahrnehmen – und wie sollte man es auch sonst tun – ist immer und überall eine sehr subjektive Empfindung. Wir hören unterschiedlich, unser Geruchssinn arbeitet verschieden, uns fallen andere Dinge ins Auge, unser Reaktionsvermögen weicht kolossal voneinander ab!
Die logische Folge ist, so verschieden, wie Menschen auf alles und jedes reagieren, so unterschiedlich fällt selbstredend auch das Gefühlt wie aus.
Daher bringt es uns überhaupt nichts, auf dieses Gefühlt wie eines anderen zu pochen, darauf zu verweisen, es gar auf uns zu übertragen! Es muss sich bei uns überhaupt nicht so äußern, es kann für uns das pure Gegenteil bedeuten!

Kräftige Menschen werden lange brauchen, ehe sie etwas gefühlt als schwer wie Blei empfinden.
Wer nicht leicht friert, wundert sich über den Kühlschrankvergleich und würde an gleicher Stelle vielleicht von wie erfrischend – gefühlt wie Abendluft reden.
Ob etwas als lange andauernd empfunden wird, ist immer auch eine Frage des Mögens. Wenn kein Interesse vorhanden ist oder geweckt wird, zieht sich die Zeit endlos in die Länge. Für den einen gefühlt ewig, für den, der sich dafür begeistert, scheint sie zu rasen – gefühlt wie ein Lidschlag.
Krachresistente, lärmgewöhnte Menschen erleben die 100 Dezibel möglicherweise wie gefühltes Gemurmel, genauso wie diejenigen, die Enge und Menschenmassen um sich herum gewöhnt sind, eher von gefühlt belebt, aber kaum jemals gleich von gefühlt wie in der Sardinenbüchse oder wie fast totgetrampelt sprechen würden.

Gefühlt schlafend ...

Gefühlt schlafend …

Und was sagen Sie hierzu?
Ist der Zustand auf dem Schreibtisch ihres Chefs oder Kollegen eher  gefühlt kreativ oder gefühlt chaotisch?
Welches Gefühl überkommt jemanden, der ausnahmsweise einmal den Lift sausen lässt und die Treppe hochstiefelt?
Gefühlt sportlich? Gefühlt berstende Lunge?
Wie ist das, wenn man zum ersten Mal diese merkwürdigen Muscheln vertilgt?
Gefühlt mutig?
Und das Resultat?
Gefühlt wie Glitsche
?
Wie Ihr Beschluss danach?
Gefühlt nie wieder?
Was bewirkt eine Schönheits-OP?
Gefühlt wie neu? Gefühlt sexy? Gefühlt nun arm? Oder gefühlt künstlich?
Was noch?
Ach ja, die Einschätzung des Regenwetters:
Gefühlt leicht feucht oder eher gefühlter Weltuntergang?

Womit wir den Kreis schließen und wieder zum Anfang kommen. Nämlich zum Wetter und den Temperaturen!

Gestern am Morgen war es neblig und kalt.
Gefühlte Minusgrade!
Gefühlt Winter!
Genau das Gefühl suche ich gerade händeringend, denn ich beabsichtige, ein bisschen über den diesjährigen Wandsbeker Winterzauber zu schreiben. Vor einer Woche, am 09. November, war die Eröffnung, aufgebaut wurde alles schon Ende Oktober –  beginnend so um den Dreh, als gerade der wärmste Oktobertag seit Aufzeichnung der Daten seinen Auftritt hatte!
Gefühlt im Sommer!

Gefühlt Sommer ... (19. Oktober 2012 - Wärmster Oktobertag überhaupt)

Gefühlt Sommer … (19. Oktober 2012 – Wärmster Oktobertag überhaupt)

Es tut mir leid, aber da konnte ich einfach noch nicht über Eisbahn, Weihnachtsmann und Grog schreiben!
Gefühlt unfähig.
Aber jetzt könnte es klappen.
Gutes Gefühl.
Vielleicht lesen wir uns dann wieder?
Gefühlt möglich

Bis dahin Ihnen allen ein schönes Wochenende!
Ja, heute ist erst Freitag!
Gefühlt ist es aber schon so weit!

©November 2012 by Michèle Legrand

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Alles eine Frage der Gewöhnung: Die neue Haustür (und der Text übrigens auch!)

Michèle Legrand - Der Bloghinweis im November 2012 - "Die Haustür ..."Hallo, schön, dass Sie da sind!
Ich bin gerade noch am überlegen, ob … Anleitungen sind langweilig, oder?
Warum ich das frage?
Eine Anleitung wäre heute die Alternative zu ich lasse Sie so auf den Text los.
Wie bitte? Sie hätten einen Vorschlag?
Eine Vorwarnung möchten Sie stattdessen?
Und wie soll die aussehen?
Nein, nein, lieber Bloggast, nichts vorab. Im Grunde haben Sie ja jetzt Ihre Vorwarnung, denn Ihnen ist mittlerweile klar, dass es heute anders laufen wird.
Also gut, passen Sie auf! Kleiner Tipp:
Lesen Sie einfach flüssig durch! Widerstehen Sie dem Verlangen, Pausen zu machen.
Ja, Satzzeichen sind Mangelware! Wundern Sie sich nicht!
Lesen Sie unverzagt weiter!

Die neue Haustür

Anfang der Woche habe ich eine neue Haustür eingebaut bekommen Sie auch immer Bedenken und fragen sich ob Sie sich an etwas Neues schnell gewöhnen werden Sie nicht auch meist eines Besseren belehrt und begreifen mit Erstaunen hilft Ihnen da aber auch nicht dass Sie meinen ich würde diese Reaktion nicht auch schon gehabt haben wir es schließlich alle schon mal so oder so ist das Leben eben.
Es beginnt im Grunde schon beim Aussuchen Sie sich nicht oft erst fürchterlich einen ab und an hat man natürlich auch Glück und läuft direkt auf etwas zu teuer sind viele Modelle freilich so dass sie von vornherein ausscheiden tut immer weh wenn die alte vertraute Haustür ausgemustert wird nicht gelegentlich den alten Dingen zu wenig Beachtung geschenkt?

Die alte Tür von 1956 war schief und verzogen wir also los eine neue auszusuchen und Finden ist nicht einfach aufgrund der großen Auswahl und der gegebenen Umstände nicht der Altbau schon dort würde man natürlich völlig unbefangen Sie nie an zu grübeln ob der Stil passen tut es sowieso nicht allen kann man es nicht recht machen Sie sich deshalb keinen Kopfschmerzen sind nämlich wirklich nicht das Gelbe vom Eiderdaus wir weichen vom Thema ab!

Die Entscheidung fiel dementsprechend nicht leicht macht man sich das ja nie sollten Sie so eine Tür im letzten Moment bestellen Sie sich vor es hat acht Wochen gedauert bis sie tatsächlich fertig war mir nicht so als hätte der Verkäufer  vier bis sechs Wochen versprochen wird selbstverständlich viel doch im Endeffekt warten sie deutlich länger wäre echt blöd gewesen weil langsam Frost kommt und das Haus während des Aus- und Einbaus lange offen ist das dann aber auch saukalt!

Die Handwerker brauchten zusammen mit dem Anbau eines ebenfalls neuen Vordachs immerhin sechs Stunden über Stunden wurde gebohrt und leise geflucht weil der alte Rahmen windschief gewickelt sind Sie immer dann wenn Sie meinen etwas würde auf Anhieb funktionieren tut es selten einwandfreilich kommt es auf die Handwerker an. Nun irgendwann ist es geschafft Sie das auch so wenn die Instruktionen dann im Schnelltempo erfolgen können sie kaum hat man das eine begriffen folgt schon das nächste Mal soll der mir das doch bitte gemütlicher erklären!

Mit der neuen Spezialtür habe ich jetzt ein wenig das Gefühl in Fort Knox zu wohnen lässt es sich recht nett wäre nur nicht die Umgewöhnung an diesen verzwickten Hochsicherheitstraktmechanismus(s) ich mir das antun oder lassen ist immer die Frage. Schön und gut das Ding ist da haben wir den Salat. Ich werde es lernen kann man nie genug Schlüssel habe ich jedenfalls zum Schließen Sie daraus nur nicht dass das ausreicht. Der Vorsatz daran denken zu wollen bringt überhaupt nichts solange nicht ein Automatismus entsteht die Tür plötzlich offen. Die Klinke brauchen Sie überhaupt nicht mehr herunterzudrücken Sie einfach alles ran dann ist sie zu spät ist es allerdings wenn sie zugezogen haben und merken dass Sie keinen Schlüssel dabeihatten wir erst neulich dass sich jemand selbst aussperrte. Und das bei vier Grad sagte ich noch, ich würde ungern erfrieren ist kein schöner Tod und Teufel fürchten ist da nie verkehrt.

Ich muss jetzt insgesamt viermal den Schlüssel herumdrehen Sie zusätzlich an dem Extraknauf in Augenhöhe legt sich noch ein Riegel vor allem der kann Probleme verursachen gibt’s! Wenn jemand draußen steht und der Sperrriegel ist von drinnen zu gibt es einen Trick wie man ihn von außen öffnet Ihnen das nicht auch ihr gutmütiges Herzrasen entsteht immer dann wenn Sie vergessen haben wie es geht doch irgendwie allen so ein Mist!

Momentan komme ich raus bzw. rein theoretisch ist es das dachte ich jedenfalls Sie auch der Meinung waren sei Ihnen gesagt man muss sich auch noch auf andere Lichtverhältnisse und neue Geräusche umpolen haben da sicher genau die gleichen Schwierigkeiten.
Und diese Tür verfügt nicht mehr über den vertrauten Briefschlitzaugen brauchten Sie früher nie um Ihre Post zu entdecken. Sie lag einfach im Hausflur auf dem Bodenlose Frechheit dass das Gedächtnis sich noch nicht einprägen konnte dass fortan ein Briefkasten neben dem Eingang hängt der Haussegen deshalb schief ist das nervig und überflüssig ist man nach dem Kauf einer solchen Tür-/Vordachkombination auch nicht mehr hätten sie auch nicht verlangen dürfen die das überhaupt? Nun irgendwofür geht das Geld ja immer weg damit also.

Anstelle des Schlitzes habe ich jetzt besagten schnieken Briefkasten den man die ersten Tage gern vergisst und sich wundert dass die Pöstler nichts austragen Sie es mit Fassung. Es wird besser Sie sind sich bewusst dass der Mensch ein Gewohnheitstierisch schwer sich umzustellen Sie sich doch nicht so an!

Am fünften Tag hingegen ist schon fast alles gut dass hier alles zur Sprache kam es Ihnen sehr schwierig vor Begeisterung über Ihr Durchhaltevermögen möchte ich Ihnen gebührend danken Sie mir nicht dafür dass ich Ihnen ihre Zeit gestohlen habe n Sie nichts Besseres vor?

Erholen Sie sich am Wochenende davon geht die Welt nicht unter Umständen kommt so ein vertrackter Text auch nie wieder vor. Ich brauchte nach den Massenfoto-Blogposts (Model Contest) nur etwas Zeit für Spielereien, bevor ich wieder mit Ihnen (bebildert) Kontorhäuser anschaue n Sie nicht so entgeistert …!
Doch, die kommen auch wieder dran!
Sobald ich nicht mehr bildgeschädigt bin. Das ist so ein Gefühl wie früher, wenn Sie den Schuhkarton mit Bildern endlich mühsam sortiert und in stundenlanger Fleißarbeit die Fotos beschriftet und in Alben eingeklebt haben. Danach wollten sie vorerst keine Aufnahmen mehr sehen wir uns trotzdem wieder hier können Sie echt was erleben lasse ich Sie aber alle.
Versprochen!

©November 2012 by Michèle Legrand

PS Das obige Foto habe ich diesmal ausgewählt, weil wir hier heute wirklich einen sehr typischen (und gravierenden)  Fall von Gedanken(sprüngen) haben … ;)

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Die Verabredung – oder Wege, die sich kreuzen …

Michèle Legrand at WordPress.comVon Zeit zu Zeit überkommt es mich, und ich veröffentliche etwas aus dem ganz weiten Feld der Dichtung, die hier im Blog sogar ihre eigene Kategorie (‚Gedichte‘ – zum besseren Wiederfinden) hat!
Gedicht heißt übrigens nicht automatisch und zwangsläufig, dass gereimt werden muss …
Es gibt Anlässe, die sich bedichten lassen, und es gibt für mich  die pure  Lust darauf. Anlässe sind real, Lust darauf hingegen heißt nicht automatisch, dass es autobiografisch ist.

Die Verabredung

http://boo.fm/b843409
(Die Hörvariante via Audioboo)

Wäre sie an ihm vorbeigegangen
hätten sich ihre Wege „nur so“ gekreuzt?
Und er?
Wäre sie ihm überhaupt aufgefallen?
Vielleicht hätten sie sich beachtet …
Aber hätten sie sich getraut
Hallo zu sagen,
gemeinsam ein Stück zu gehen …
Kaffee zu trinken,
zu erzählen, zu lachen,
zu schweigen?
Wie sie es taten …
Wer weiß es schon im Nachhinein –
mit Sicherheit.

Sie trafen sich.
Das erste Mal.
Sie gingen nicht aneinander vorbei,
weil einer den anderen erwartete.
Nur woher kannten sie sich?
Es gab viele Arten,
sich über den Weg zu laufen …
Ihre Pfade hatten sich bereits gekreuzt –
„nur so“ – irgendwann
lange vor diesem Tag

Und sie hatten sich beachtet.

©Juni 2012 by Michèle Legrand

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Vorsicht Glatteis!

Vorsicht Glatteis!
28.05.2012. Pfingstmontag.
Ein Tag mit Sommer-Juli-Freibad-Temperaturen. Draußen und im Auto sowieso.
Ich bin unterwegs in den Westen Hamburgs und schwanke während der Fahrt etwas unschlüssig zwischen Fenster auf und Wind oder Fenster zu und Klimaanlage. Fenster auf gewinnt, die Sonne scheint auf die Arme, ein Lüftchen umweht mich, und alles ist immer genau so lange gut, bis eine Ampel auf Rot springt und ich länger stehen muss. Dann heizt sich der Wagen im Nu auf. Nur kurz vor Ende der Reise die Klimaanlage noch hochzufahren, ist Energieverschwendung bzw. es ist auch so sinnlos, denn was nützt es, wenn sie es noch knapp schafft, Kühlschrank-Gemüsefach-Temperaturen zu zaubern, ich aber beim Aussteigen einen Schlag bekomme …?
Nein, keine Klimaanlage – und eigentlich möchte ich damit auch nur andeuten, dass ich ziemlich köchelnd in Niendorf eintraf.

Ich bin auf dem Weg zum Neuen Friedhof Niendorf. Einen Menschen besuchen, der heute Geburtstag gehabt hätte. Ein bisschen Zwiesprache halten, ihn auf den neuesten Stand der Dinge bringen, Fragen stellen, schauen, ob alles in Ordnung ist,  horchen, was so los ist …
Da ich nicht wusste, ob irgendwo ein Blumenladen am Pfingstmontag geöffnet hat, habe ich meinen Garten geplündert und laufe mit buntem Blumenstrauß bei gleißendem Licht Richtung schmiedeeisernem Eingangstor. Das Auto musste ich etwas entfernt parken. Ich schiebe die Unterlippe vor und puste Luft nach oben unter die Ponyhaare. Mir ist warm.
Das große Tor ist erreicht. Ein Schild, an den senkrechten Gitterstäben befestigt, enthält in großen Lettern die Warnung:
VORSICHT GLATTEIS!
Ich vergesse weiter zu pusten. Glatteis! Glatteis? Heute? Hier?
Nein. Natürlich, mir ist schon klar, dass es ein Ganzjahresschild ist, das im Sommer eben nicht entfernt wird. Doch diese Einsicht hat nicht verhindern können, dass vorher erste, automatische Reaktionen auftraten, das Gedanken sich eigenständig formten …
Ich bekam etwas Gänsehaut an den Unterarmen.
Ich dachte Millisekunden über meine Schuhe nach, die nicht glatteistauglich sind.
Danach passierte Folgendes: Szenen und vor allem völlig neue Warnschilder tauchten vor dem inneren Auge auf!
Sahara. Die Sonne brennt. Das Licht flimmert. Ein Schild: Vorsicht Überschwemmung!
Herbst an der Elbe. Heftigster Regenguss, nahende Sturmflut. Ein Warnschild: Vorsicht Sonnenbrand!
Und zu guter Letzt grübelte ich darüber nach, ob das Schild schon die ganzen fünf Jahre, die ich hier immer wieder herkomme, dort hängt. Ich kann es nicht sagen …

Ich traute mich trotz der Warnung auf das Friedhofsgelände und erreichte bald mein Ziel. Während ich die Blumen versorgte, plauderte ich mit ihm:
„Wusstest du, dass es gefährlich war, hierher zu kommen?“
(Er antwortete natürlich nicht, doch ich  berichtete ihm trotzdem von dem Schild.)
„Ich musste tierisch mit dem Glatteis hier bei dir aufpassen!“, bemerkte ich, mir Luft zufächelnd.

Ich habe ihn lachen gehört …

©Mai 2012 by Michèle Legrand

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Wie ist das mit der Wirkung von beschädigten Glücksbringern?

Glücksklee

Montag, der 14. November 2011, und es ist kalt und neblig.
Es herrscht schlechte Sicht, besonders bei der zusätzlich schon wieder einsetzenden Dämmerung.
Mein Vordermann im Peugeot fährt wie ich auf die größere Einbiegung zu und wartet anfangs ordnungsgemäß, denn hier herrscht rechts vor links.
Allerdings herrscht auch eigenartigerweise häufig die Annahme, man könnte als Abbiegender ruhig schon losfahren, selbst wenn sich noch weitere vorfahrtberechtigte Wagen nähern.
Die Logik dahinter ist die, dass wenn acht von zehn Autos in die Straße einbiegen wollen, aus der man selbst kommt und nicht geradeaus fahren und somit zuerst dran sind, dann sollten dies die zwei restlichen gefälligst auch vorhaben! Das Abbiegen. Dumm, wenn es dann nicht so kommt …
Besagter Peugeotfahrer übersah oder ignorierte anfangs ein solches vorfahrtberechtigtes Nachzüglerauto, fuhr an, um bei dem darauf folgenden, wilden Hupkonzert pflichtschuldigst wieder in die Bremsen zu gehen.
Zeit verloren. Nun, aber zackig …!
Und schon geschah es beim erneuten Anfahren, dass er auch den auf dem Fahrrad in voller Montur angeradelt kommenden Schornsteinfeger übersah..
Quietschende Reifen, ein reaktionsschneller, abspringender Mann in Schwarz, Schwenken der geballten Fäuste, Augenbrauenhochziehen,  lauter Protest sowie einzelne Selbstgespräche bei den am Gehwegrand wartenden Fußgängern. Zum Glück ging alles noch einmal gut, und der Tross löste sich danach zügig auf.

Zum Glück.
Wie ist das eigentlich? Mir stellt sich jetzt gerade folgende Frage:
Würde quasi der Glücksbringer „beschädigt“, brächte es dem Verursacher dann eigentlich doppelt Pech?
Und ich frage weiter:
Hat der Glücksbringer etwa keinen Selbstanspruch auf Glück?
Oder war die Tatsache, dass es gerade noch einmal gut ausging, sein Quäntchen Glücksbringer-Glück?
Es könnte auch das Glück des Peugeotfahrers gewesen sein, dass ausgerechnet ein Schornsteinfeger kam. Vielleicht hätte er einen Nicht-Glücksbringer wirklich überfahren …
Darüber lässt sich weiter nachsinnen, denn ist es nicht auch langsam an der Zeit, sich generell über den Umgang mit Glücksbringern ein paar Gedanken zu machen?
Wie verhalte ich mich richtig? Gibt es überhaupt richtiges Verhalten? Welche Konsequenzen habe ich zu erwarten, oder wie habe ich die Situation zu deuten?
Was passiert beispielsweise auf der Wiese?
Doppeltes Pech beim Platttrampeln eines vierblättrigen Kleeblatts?
Oder richtig Glück gehabt, weil nicht in dem Kuhfladen daneben gelandet?
Oder ein gutes Werk getan, weil sonst die Kuh darauf getreten wäre oder den Klee womöglich gefressen hätte?
Bringt der Klee der Kuh im Magen Glück? Wenn ja, weiß sie das?
Fragen über Fragen …
Lasse ich Scherben, die Glück bringen, nicht lieber liegen? Was helfen sie, wenn sie weggeräumt sind?
Was mache ich mit dem Glücks-Cent aus Griechenland?
Wenn ich jemandem über die Schulter spucke, soll es ihm bekanntlich Glück bringen. Was ist, wenn ich dabei jemanden dahinter treffe? Noch mehr Glück für die Zielperson oder simpel Pech, dass sie im Weg stand?
Um zum Schluss noch einmal auf den Schornsteinfeger zurückzukommen:
Der muss definitiv heil bleiben!
Dem darf nichts passieren!
Nicht, dass mir hier jetzt einer mit dem Vergleich kommt, ein Schornsteinfegerfuß (nach Unfall) reicht auch – analog zur Hasenpfote …

©November 2011 by Michèle Legrand

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Zerstört

Mir hat es in den letzten Tagen angesichts der katastrophalen Ereignisse in Japan twittermäßig ein wenig die Stimme verschlagen.
Es wurde viel gesagt, geschrieben und diskutiert. Was ich heute hier poste, ist in meinem Kopf. Es ist mein Sehen, meine Anteilnahme, mein Mitgefühl, mein Unverständnis vielleicht auch und meine Hoffnung für die Zukunft. Eingepackt, moderat, trotzdem nicht weniger intensiv.

Zerstört

Alles vernichtet.
Alles unter Schlamm.
Niedergewalzt. Wie Spielzeug
der Gewalt der Natur ausliefert,
danach den Folgen,
die das Risiko Technik mit sich bringt –
verschärft durch die Umstände…

Menschen ließen ihr Leben.
Menschen suchen
Menschen verloren ihr Habe,
ihr Heim, die Familie!
Und bisher kein Ende.
Was wird noch alles nachkommen?
Wie lange werden sie leiden?
Wie viele Vermisste wird man überhaupt finden?
Wie viele werden noch sterben?
Wie viele erkranken – jetzt oder später?

Nie aufhören wird die Trauer um die,
die nie wiederkommen werden…
Und doch
es wird ein neuer Tag kommen,
und mit ihm ein Funken Hoffnung.
Die Erde wird zur Ruhe finden
– vielleicht noch nicht heute –
ihr Grummeln und Beben beenden, bald…
Greifen Rettungsmaßnahmen?
Wie ist letztendlich das gesamte Ausmaß der Schäden –
der Nachwirkungen….?

Fragen über Fragen.
Wenn, wenn, wenn …
wenn das technische  Desaster „im Griff“ ist,
falls es das je sein wird,
wenn sich die Wolken verziehen,
der Himmel aufreißt,
die Wassermassen versickern und versiegen.
Dann beginnt das
Aufräumen,
Wiederherrichten,
Ersetzen,
Aufbauen.

Doch Menschen kann man nicht ersetzen!
Kann man einen Überlebenden „wiederherrichten“?
Möge der Körper diese Torturen überstehen.
Mögen Seelenqualen heilen.
Möge das Ereignis zum Denken anregen,
zum Nachdenken, Überdenken, Umdenken…
Auch hier.

Was genau heißt „sicher sein“?
Wann ist „genügend“ Sicherheit,
und wer entscheidet, ob dem so ist?
Wer kann ein Risiko abschätzen?
Wer darf aus Unwissenheit
oder sogar leichtfertig abwiegeln
oder Märchen verbreiten?
Märchen über nicht vorhandene Gefahren,
über Umstände, die ’nie‘ eintreten werden?

Was ist denn die Natur wert? Die Erde? Was das Leben?
Was ist ein Menschenleben wert?
Fahrlässig handeln kann töten.
Fahrlässig handeln ist unakzeptabel.
Unwissenheit ebenso, zumal, wenn es Entscheidungsträger betrifft.
Wissen und Ignorieren hingegen
ist nicht nur unakzeptabel, sondern auch widerwärtig.

Sollte all das Furchtbare, was gerade passiert,
nicht nur Trauer und Elend hinterlassen,
sondern zum Nachsinnen verleiten,
dann hätte es wenigstens noch etwas bewirkt
und nicht nur

zerstört.

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Zerstört mir nicht die Kaffeehausatmosphäre …!

Manchmal überkommt mich unterwegs die Lust auf eine Kaffee-/Sitz-/Guck-/Träum-/Schreibpause. Besonders bei Erledigungen oder Besorgungen direkt nach dem Niedrigtemperaturbüro, wenn es angenehm ist, wieder warm zu werden und den Kopf ein wenig frei zu bekommen.

Mein Coffee Shop bei den Rolltreppen,  in dem oder auch durch den die Geschichte vom Rolltreppen-Voyeurismus ( bei http://www.goodnewstoday.de (2010)  und auch nachträglich im Blog: ->https://michelelegrand.wordpress.com/2012/06/27/bloglesernachfrage-was-ist-bitte-rtv-heute-die-ganze-geschichte-dazu/ ) entstand, existiert leider nicht mehr.
Geschlossen – ohne Vorwarnung, von einem auf den anderen Tag …

Mittlerweile hat dort im Erdgeschoss ein Nachfolger dieses Quartier bezogen – doch erst nach ca. zehn Wochen Leerstand und dauerhaft verklebten Scheiben! Inzwischen war ich schon „fremdgegangen“ – in ein Eiscafé, das sich gut erreichbar genau ein Stockwerk darüber befindet.
Anfangs war ich enttäuscht. Natürlich war alles ganz anders. Ich fühlte mich nicht auf Anhieb heimisch, zumal der Cappuccino nicht besonders schmeckte, teurer war, der Service ewig dauerte, und die hunderttausend Kissen mit abwischbarem Krokodilleder-Imitat mich fertig machten.
Sie waren als Rückenkissen gedacht, benötigten jedoch fast die gesamte Sitztiefe, so dass ich immer nach vorne über die Kante rutschte. Irgendwann verbannte ich drei Kissen, formte damit einen Turm auf dem Nachbarsitz und überlebte auf diese Weise.
Dennoch gab ich dem Ganzen einen zweiten Versuch.
Und siehe, dieses Mal war eine andere Bedienung zuständig, der alternativ gewählte Caffè Latte schmeckte gut und war günstiger, und ich entdeckte einen anderen Sitzplatz ohne Kuschelzwang und Abrutschrisiko.
Eine Woche später folgte das dritte Mal.
Jetzt war es passiert!
Ich hatte mich eingewöhnt!
Geholfen hat dabei sicher auch Robert Redford  ( https://michelelegrand.wordpress.com/2012/12/11/rentier-mit-krokantbecher/ ) Seit dem Ereignis, werde ich dort wirklich sehr aufmerksam und freundlich begrüßt bzw. bedient.
Ich – meinerseits – kenne inzwischen die Namen und ein paar Eigenarten der verschiedenen Angestellten.

Am Anfang herrschte eine leichte Verunsicherung vor und auch ein gewisses Misstrauen, weil ich grundsätzlich mit Notizbuch unterwegs bin und einfach immer schreiben muss. Mag sein, dass ich dabei gelegentlich den Blick in der Gegend herumschweifen lasse.
Vielleicht hielt man mich für einen Eisdielen-Kritiker, eine Angestellte des Gewerbeaufsichtsamtes oder einen Kontrollfreak vom Security Management des Einkaufszentrums.
Wenn dem so war, sollte ich sie in dem Glauben lassen?
Nein.
Es ergab sich kurz nach dem „Rentier mit Krokantbecher“ die Möglichkeit,  mit Anna, einer der Angestellten, die Lage zu klären, während ich mir nebenher Stichworte zum Thema: „Der männliche Gast in der Eisdiele“ bzw. zu „Warum tragen manche Menschen nur einen Handschuh“ aufschrieb …
Nun erhalte ich anstelle eines einzigen Amarettini-Kekses seit einiger Zeit sehr oft zwei zum Cafè Latte auf die Untertasse gelegt! Es hat mich überrascht, denn es geschah definitiv nach meiner Klarstellung, dass es Ergüsse für rein private Zwecke sind, die ich notiere!  Ich bekomme sie also definitiv nicht deshalb, weil jemand annimmt, man müsse bei mir schleimen, um im nächsten Eisdielen-Äquivalent zum Guide Michelin gut wegzukommen, sondern wohl eher für die lebenserhaltende Maßnahmen beim Rentier.

Kommen wir zurück auf das Entspannen. Geht es Ihnen auch gelegentlich so, dass Sie es als angenehm empfinden, nur da zu sitzen und nebenher aufzusaugen, was um Sie herum so alles passiert?
Es ist kein Action-Kino. Es ist anders.
Manchmal stelle ich mir vor, dass es genau das war, was die sogenannten  Wiener Kaffeehausbesucher,  allen voran die schreibenden Menschen, gesucht haben. Sie wollten mittendrin sein, mitten im Leben, ohne den Zwang zu verspüren, sofort selbst aktiv werden zu müssen. Sie wollten ihrer Tätigkeit, z. B. dem  Schreiben und Sinnieren nachgehen, ohne das Gefühl zu haben, sie wären ein einsamer Eremit, zurückgezogen in der Höhle und ohne Kontakt zur Außenwelt.
Sozial unfähige Grufties.
Sie brauchten nicht die absolute Stille, um arbeiten zu können. Sie brauchten eine vertraute Umgebung, vertraute Geräusche, etwas für das leibliche Wohl, gewohnte und neue Gesichter, auf Wunsch sozialen Kontakt und Gespräche oder Austausch von Neuigkeiten.
Das war die ideale Arbeitsatmosphäre!
Anregung ohne Aufregung, gekoppelt mit Rückzugsmöglichkeiten, die das Niederbringen von Gedanken in Schriftform direkt an Ort und Stelle erlaubten. Ein weiteres Kapitel geschafft. Darauf noch ein Stück Apfelstrudel und einen Wiener Mokka.

In gewisser Weise – sozusagen im kleinen Rahmen –  ist es das, was ich dort genieße. Meine Ruhe,  mein Maß an Leben um mich herum, mein Notizbuch, meinen Caffè Latte.

Und dann kamen sie. Zwei Ehepaare, miteinander bekannt und allesamt um die 60 Jahre alt. Sie belagerten einen größeren Tisch mit Eckbank und Stühlen. Breiteten ihre Massen von Tüten und Taschen überall aus, blockierten den Weg und palaverten in einer Lautstärke, als säßen sie jeweils am entgegen gesetzten Ende des Cafés.  Dann klingelte eines ihrer Mobiltelefone. Stunden! Das Handy hätte Tote wecken können!
Sie fanden sich vor allem selbst enorm lustig!  Klar, dass nun Uraltwitze, -sprüche, und -zoten folgen mussten, gespickt mit nach Beifall heischendem Blick in die Runde. Na, bekamen auch alle mit, wie toll sie waren?

Das ist der Moment, in dem ich sonst spontan beschließe zu zahlen und zu gehen. Die Herrschaften bestellten jedoch jeweils nur einen Espresso. Das hieß, es bestand die berechtigte Hoffnung auf baldiges Verschwinden.
Quengeliges Verhalten der Herren beim Bestellen, der Damen beim Trinken. Zehn Minuten später das kernige Anfordern der Rechnung.  Schlecht kaschierte,  peinliche Anmache der Bedienung, säuerliche Blicke der Gattin.
Trinkgeld für die nette, alles geduldig ertragende Angestellte? Tja, war leider nicht drin…
Aber – sie brechen auf!! Hurra!
Sie sagt zu ihrer Freundin:
„Schiebst du  mir mal den alten Sack rüber…!“
Wahrscheinlich meinte sie ihren verblichenen, silbrigen Einkaufsbeutel, der noch auf der Eckbank lag.
Mir gefiel aber durchaus der Gedanke, dass hiermit ihr anzüglicher Ehemann gemeint war. Es passte zumindest wie die Faust aufs Auge.
Dann waren sie fort.

Ich trank genüsslich in aller Ruhe meinen Kaffee aus, und es folgten natürlich wieder ein paar Notizen …
Anna lächelte mir zu.

©Dezember 2010 by Michèle Legrand

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