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Stilvolle Treppenhäuser, schöne Fassaden, eigenwilliges Interieur – der Charme Hamburger Kontorhäuser / Teil V – Das Haus Pinçon am Neuen Wall
Veröffentlicht von ladyfromhamburg in Artikel, Auf Entdeckung - Unterwegs im In- und Ausland (s. dazu auch weitere Spezialkategorien), Foto, Hamburgs Kontorhäuser am 16/01/2013
Der mittlerweile fünfte Part dieser Blogserie erscheint heute und mit ihm lernen Sie ein neues „altes“ Kontorhaus kennen:
Das Haus Pinçon.

Hamburg – Kontorhäuser – Das Haus Pinçon im Neuen Wall 26-28, Fassade (ab 1. OG) mit Keramikfliesen verziert. Unten rechts das Tradtionsunternehmen Waßmann (Drei Goldschmiede in der Familie! Sie erinnern sich vielleicht an Thorsten Waßmann, den ich Ihnen in einem Bericht mit seinen besonderen Silberschmuckkreationen vorstellte). Links vom Eingang seit Anbeginn 1904 die Fa. Weitz (Porzellan)
Es ist in Hamburgs Innenstadt unter der Adresse Neuer Wall 26-28 zu finden, und der Name geht zurück auf den bekannten Hutmacher P. M. Pinçon & Co., der dort – als der Neubau fertiggestellt war – seine Geschäftsräume bezog.
„Alt“ in Anführungsstrichen gesetzt, denn obgleich sein Baujahr mit 1904/1905 angegeben wird (Architekten: Leon Frejtag & Hermann Wurzbach), erscheint es Ihnen heute beim Betrachten wahrscheinlich sehr frisch und irgendwie jung – nur ohne dabei modern zu sein.
Sie ahnen ganz richtig: das Haus wurde aufwendig restauriert!
Wir kommen gleich dazu und widmen uns der besonderen Fassade.
Vorweg eine Frage an Sie bzw. die Bitte, folgende Überlegung anzustellen:
Angenommen Sie wohnten in einer Wohnung oder einem Haus, das schon ein bisschen in die Jahre gekommen ist. Kleine optische Verbesserungen und Möbelveränderungen gab es, der bauliche Zustand – beispielsweise der sanitären Einrichtungen – blieb jedoch unverändert.
Neulich hat es einen Wasserschaden im Bad durch ein Leck im Wasserzulaufrohr gegeben. Die Wand wurde aufgeklopft, die undichte Stelle freigelegt, das eigentliche Leck gefunden.
Nun, das Gröbste ist wieder gerichtet. Das neue Rohr wurde installiert, die Mauer trocknete, die Löcher wurden verschlossen – nur es sieht grauslig aus! Ein Bereich der Fliesen musste leider herausgestemmt werden, und die jetzt vorerst verputzten Stellen sind absolut keine Schönheit.
Jetzt sind Sie an der Reihe!
Was ist Ihr Plan?
Aha, ausbessern. Schöner Plan.
Haben Sie noch Fliesen nach all den Jahren?
Nicht? Schon stirbt der Plan.
Bitte?
Im Keller? Wie viele denn? Werden sie reichen?
Ach – nicht?
Fliesen dazu kaufen?
Die gibt es nicht mehr!
Ähnliche meinen Sie?
Stil und Farbe sind komplett out. Keine Chance.
Es bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie reißen alles raus und kacheln komplett neu (anders) oder – wenn Sie sehr an dem alten Kacheldesign gehangen haben, weil es etwas ganz Einmaliges war (Ihre Fliesen trugen handgemalte indianische Stammeszeichen o. ä.) – nehmen Sie Ihre Musterfliese aus dem Keller, marschieren damit zu einem Fachbetrieb und lassen sich neue Kacheln dieser Art anfertigen. Auch diese werden nicht haargenau zu den restlichen Unversehrten passen, die sich noch neben dem arg geschundenen Stück Ihrer Badwand befinden.
Sie lassen sich daher seufzend eine Charge in der Größenordnung anfertigen, dass sie zur Runderneuerung reicht …
Sie kennen jetzt das Problem.
Wann immer Sie etwas Existierendes wieder herrichten wollen, mit erheblicher zeitlicher Verzögerung etwas „nur“ausbessern möchten, irgendwie Vorgaben haben, an die Sie sich halten möchten oder müssen – immer dann wird es schwierig. Und teuer!
Nun kommen wir zum Haus Pinçon.
Hier geht es nicht um einen kleinen Wasserrohrbruch, sondern dieses im sogenannten konstruktiven Jugendstil errichtete Bauwerk hat leider – wie viele andere Häuser auch – während des Zweiten Weltkriegs ziemlichen Schaden genommen.
Hamburg (und insbesondere auch die Innenstadt) wurde – wie Sie wissen – ausgiebig bombardiert. Gerade zentrale Lagen, wirtschaftlich empfindliche Punkte, verkehrstechnisch wichtige Orte (Hauptbahnhof, etc.) wurden bevorzugt anvisiert.
Manche Gebäude waren danach nur noch Schutt und Asche. Bei den Kontorhäusern gab es welche, die ihre oberen Geschosse verloren. Nicht alle wurden nach dem Krieg in der alten Form wieder aufgestockt.
Viele erlitten erhebliche Brandschäden, manchmal auch beides.
Nachdem in Hamburg im 19. Jahrhundert (1842) der Große Brand gewütet hatte, wurden als Konsequenz daraus die ersten Bauregelungen eingeführt, und aus der noch tief sitzenden Furcht vor Bränden eine gewisse Sensibilität hinsichtlich des Brandschutzes entwickelt.
Es erfolgten Änderungen der Bauweise, und der Blick richtete sich ebenfalls auf die Ausstattung.
Für die Kontorhäuser speziell hieß dies, dass sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Stahlbetonbauten in Kombination mit Sandstein, Backstein oder Klinkern durchzusetzen begannen. Die Gebäude erhielten großzügige Treppenhäuser mit Kachelwänden und gefliestem Boden. Eine Vielzahl der Geländer war nun aus Metall/Schmiedeeisen, ein Teil weiterhin aus Holz, jedoch in einer eher massiven Form. Es wurde auf leicht entzündbare Gegenstände in den Foyers und Hallen gänzlich verzichtet. Die Fluchtwege blieben frei.
Die Gefahren für den Ausbruch eines Brandes wurden somit reduziert, die Ausbreitung erschwert – nur gegen (Brand-)bomben waren kein Haus immun.
Das Haus Pinçon trug im Krieg erhebliche Brandschäden davon, und in der folgenden Zeit reichten die knappen Mittel vorerst nur für eine Neuverblendung der Fassade mit hellen, grauen Klinkern. Abgesehen von dem anfangs nicht tragbaren finanziellen Aufwand, gab es natürlich einen weiteren Grund: das nötige Material war lange gar nicht vorhanden!
Wer in den Jahren bis etwa Beginn 2006 den Neuen Wall in Höhe des Hauses 26-28 entlangspazierte, passierte das Gebäude höchstwahrscheinlich schnelles Schrittes und ohne große Beachtung oder steuerte es lediglich an, um ein dort ansässiges Geschäft zu betreten.
Die damalige Eigentümerin, Frau Lotte Zscherpe, hingegen, hatte immer den Traum gehabt, es wieder so herzurichten, wie es am Anfang ausgesehen hatte. Ihr, die einst eine Zeit als Verkäuferin im Hutgeschäft P. M. Pinçon & Co. tätig war, schwebte der Urzustand vor:
Ein markantes Haus, rot verklinkert, mit einer sehr klar unterteilten Fassade im oben erwähnten konstruktiven Jugendstil.

Hamburg – Kontorhäuser – Haus Pinçon – Neuer Wall 26-28 – Gemäß altem Vorbild: Kacheln mit blauer Glasur nach Machart „craquelée“
Als zusätzlichen Anziehungspunkt für das Auge und zur besonders gearteten Querunterteilung ab dem ersten Obergeschoss, herrliche, intensiv blaue Kacheln, dazu Kupfer. In luftiger Höhe – quasi als Abschluss vor dem Dachbeginn – vier besondere Keramik- Reliefs, die jeweils einen Frauenkopf zeigen – jeder mit einem anderen Gesichtsausdruck.
Irgendwann war der Traum von Frau Zscherpe nicht mehr nur eine vage Wunschvorstellung, sondern das Unternehmen „Restaurierung“ nahm Formen an. Das Büro Pflügelbauer wurde beauftragt und deren Architektin Nathalie Göttling leitete die zwei Jahre dauernden Arbeiten. Als Vorbilder dienten alte Fotografien und Originalfliesen, die sich auf dem Dachboden des Hauses fanden.
Jetzt fragen Sie sich vielleicht, wie man mit einer Fliese aus dem Jahr 1904 heute weiterkommt. Der Baumarktleiter wird sicher nur traurig dreinschauen und bedauernd den Kopf schütteln, wenn Sie ihm hoffnungsfroh ein Musterexemplar vor die Füße legen und dabei vorsichtig mit Ihrem Plan herausrücken. Auch der oben erwähnte Fachbetrieb dürfte überfordert sein, denn sein heutiges Produktionsverfahren weicht doch erheblich von dem von vor über 100 Jahren ab.
Doch es gibt Spezialisten. Es gibt einen Herrn, der auch schon Fliesen für den Alten Elbtunnel in Hamburg, für das Holthusenbad oder für diverse Bahnhöfe der Hamburger U-Bahn (St. Pauli, Hallerstraße, Uhlandstraße etc.) herstellte. Sein neuestes Werk, die siebte Station mittlerweile, war 2012 die Mitgestaltung der U-Bahn-Station Sierichstraße.
Sein Name ist Hans Kuretzky. Herr Kuretzky ist Baukeramiker (Dipl.-Ing. nach einem Keramikdesign-Studium in Krefeld) und hat einen Werkstatthof in Borstorf – zwischen Trittau und Mölln gelegen. Er betreibt seine Werkstatt seit 1985. Anhand des Musters hat der Baukeramiker aus insgesamt sieben Tonnen (!) Ton die benötigten Fliesen und Ornamente nachgearbeitet.
Jede einzelne Fliese Handarbeit – insgesamt eine Fläche von 62 Quadratmetern!
Handkunstwerke – so nennt Herr Kuretzky sie selbst.
Die Fliesen wirken geflammt, an manchen Stellen in der Literatur stößt man auf den Begriff Majolika-Verkleidung, liest an anderer Stelle aber von „carreau flammé“ und von der Machart „façon craquelée“. Das wiederum leitet sich ab vom Verb craqueler = etwas rissig machen.
Bezogen auf die Glasur bedeutet es, dass bei dieser Machart beim Brennen feine Risse auftauchen. Und letztendlich war es genau diese Herstellungsweise, die hier angewandt wurde.
Außer der Anfertigung der blauen Kacheln, fielen Arbeiten am Rotstein für die Fassade an und natürlich mussten außerdem die 60-70 kg schweren, menschlichen Köpfe modelliert werden.
Diesen Auftrag führte der Restaurator und Kunstmaler Peter Lund aus. Obwohl er sie als eher androgyn beschreibt, wirken sie mehr weiblich – was auch einen gewissen Sinn ergibt, denn das Kontorhaus wurde (zumindest bis zu diesem Zeitpunkt) immer nur an Frauen vererbt!

Hamburg – Kontorhäuser – Haus Pinçon – Neuer Wall 26-28 – Frauenköpfe mit – wenn man genau hinschaut – unterschiedlichem Gesichtsausdruck
Was Sie auf dem nächsten Foto vielleicht erkennen können, ist ein Schriftzug, der in etwa 15 Metern Höhe eingearbeitet ist. Er wurde von Frau Zscherpe persönlich – als christliches Element – ausgewählt und von Heidrun Kuretzky gestaltet. Es handelt sich um den Konfirmationsspruch der Eigentümerin nach Jesaja, 43,1: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“

Hamburg – Kontorhäuser – Haus Pinçon – Neuer Wall 26-28 – Eingearbeitet der Konfirmationsspruch …(hier ist ein Teil zu sehen)
Für die Montage der neu modellierten und gebrannten Elemente, wurden die alten Behelfsklinker nicht entfernt. Auf die vorhandene Fassade kam eine Edelstahlmatte (wurde einfach vorgeschraubt), auf welcher sowohl Fliesen als auch Rotsteine aufgesetzt und verankert wurden.
Ein ziemlich beeindruckendes Ergebnis nach der Fertigstellung! Frau Zscherpe hat das Haus wunderschön wieder herrichten lassen, und zum Glück hat sie das Haus Pinçon in seiner neuen Pracht im Jahr Herbst 2007 auch noch miterlebt. Sie starb 2008 im Alter von 88 Jahren.
Nachdem Sie durch obige Bilder bereits die neue Fassade kennen, können Sie sich nun zusätzlich einen kleinen Eindruck davon verschaffen, wie der Eingangsbereich und der Zugang zum Treppenhaus gestaltet wurden.
Keine Mosaiken wie im Fall des Hübner– oder Hildebrandt-Hauses, zurückhaltender insgesamt, doch überaus stilvoll – besonders die Treppenaufgänge/Geländer. Völlig anders auch als beispielsweise die Geländer im Laeiszhof (verspielte, eher floral wirkende Formen/Ranken).
Wie gefällt es Ihnen?
Beim nächsten Kontorhaus-Gang (Teil VI), werde ich Ihnen – so sieht die derzeitige Planung aus – einige Gebäude in der Poststraße bzw. der Gerhofstraße in Bildform näherbringen. Vielleicht mögen Sie sich wieder anschließen ….
Quellen:
Einige der Informationen über die Arbeiten am Haus stammen aus folgenden Artikeln des Hamburger Abendblatts:
– Ein Haus wie anno 1904 (Matthias Rebaschus) – 20.10.2007
– Der Meister der glänzenden Fassaden (Karin Lubowski) – 01.07.2006
Vorhergehende Folgen der Kontorhaus-Serie sind über nachstehende Links für Sie aufrufbar:
https://michelelegrand.wordpress.com/2012/08/17/demnachst-im-blog-hamburgs-kontorhauser-eine-kleine-einfuhrung-fur-sie/
Teil I:
https://michelelegrand.wordpress.com/2012/08/20/stilvolle-treppenhauser-schone-fassaden-eigenwilliges-interieur-der-charme-hamburger-kontorhauser-teil-i-darf-es-etwas-basiswissen-sein/
Teil II:
https://michelelegrand.wordpress.com/2012/08/25/stilvolle-treppenhauser-schone-fassaden-eigenwilliges-interieur-der-charme-hamburger-kontorhauser-teil-ii-der-laeiszhof-samt-paternoster-und-watt/
Teil III:
http://wp.me/p1zeK1-1iW / Das Hildebrand-Haus
Teil IV:
https://michelelegrand.wordpress.com/2013/01/11/stilvolle-treppenhauser-schone-fassaden-eigenwilliges-interieur-der-charme-hamburger-kontorhauser-teil-iv-das-hubner-haus-und-eine-kleine-zeitreise/
©Januar 2013 by Michèle Legrand
Stilvolle Treppenhäuser, schöne Fassaden, eigenwilliges Interieur – der Charme Hamburger Kontorhäuser / Teil III – Das Hildebrand-Haus und das Geheimnis des Übersehens
Veröffentlicht von ladyfromhamburg in Allgemein, Artikel, Auf Entdeckung - Unterwegs im In- und Ausland (s. dazu auch weitere Spezialkategorien), Foto, Hamburgs Kontorhäuser am 04/10/2012
Willkommen zurück!
Der dritte Teil der Blogserie über Hamburgs alte und auch neue Kontorhäuser hat auf sich warten lassen. Zu viele andere, aktuelle Themen quetschten sich respektlos dazwischen.
Anfangs hatte ich vor, Ihnen hier ein paar Zeilen Freiraum zu lassen. Für Ihren eigenen Text. Für Ihren Rüffel, dass es nicht weitergeht …
Na, das hat ja gedauert! Schön, dass ich das auch noch erlebe … und dergleichen.
Nur, geben Sie es ruhig zu:
Tief in Ihrem Innersten sind Sie doch gar nicht so pedantisch, oder?
Sind Sie nicht viel eher der charmante Schwamm-drüber-Typ? Der Ach-was-soll’s-Hauptsache-es-geht-jetzt-weiter-Blogstammgast?
Wusste ich es doch!
Ein klein wenig ausholen möchte ich auch heute, und Sie werden gleich verstehen, worauf ich hinaus will bzw. entdecken, dass auch dieser Aspekt zum Thema Kontorhäuser passt. Zur Tatsache, dass verhältnismäßig wenige Menschen sie kennen und wahrnehmen.
Stellen Sie sich bitte vor, ein Bekannter zeigt Ihnen ein Foto eines sehr schönen Gebäudes. Sie bewundern die Fassade, diese famose handwerkliche Kunst und fragen staunend:
Sag mal, wo steht denn dieses tolle Haus?
Daraufhin ernten Sie den recht fassungslosen Blick Ihres Freundes. Verwundert erzählt er Ihnen (z. B.) als Hamburger, es handle sich um ein Gebäude am Neuen Wall (City Hamburg) und Sie wären doch gerade heute daran vorbeigekommen!
Empörung macht sich in Ihnen breit!
Sie schwören Stein und Bein, dass Sie dieses Haus noch nie in ihrem Leben gesehen hätten.
Kann gar nicht sein! Neuer Wall! Also, das wüsste ich aber …!
Was denken Sie? Wie ist das möglich?
Wie lässt sich ein großes, imposantes Haus mit auffälliger Vorderfront derart übersehen?
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, was häufig passiert, wenn Sie durch schmale Straßen spazieren, bebaut mit Häusern, in denen im Erdgeschoss Geschäfte angesiedelt sind? Die obendrein recht sorgfältig arrangierte, durchaus interessante, ansprechende Schaufensterauslagen zu präsentieren haben?
Sie verfallen dem Kaufrausch?
Nun ja, ich meinte eigentlich etwas anderes.
Es geschieht quasi dasselbe, was auch eintritt, wenn Sie bei Regen unter einem aufgespannten Schirm unterwegs sind.
Sie fluchen über das Mistwetter?
Nicht doch …!
Es ist ganz anders.
Achten Sie einmal darauf, beides behindert gleichermaßen ihren Blick nach oben. Tatsächlich ist es so, dass Sie selten höher als bis zur Oberkante des Erdgeschosses (= oberes Ende des Schaufensters) schauen und sich obendrein kaum Gedanken darüber machen, wie das Haus, an dem Sie just vorbeipromenierten, ansonsten aussieht. Sei es das äußere Erscheinungsbild oder die Frage, was wohl hinter der Eingangstür auf Sie wartet.
In Hamburgs Innenstadt haben wir genau diese Situation. Die Straßen im Westen der City sind vornehmlich ziemlich schmale Einbahnstraßen, eingesäumt von relativ hohen Bauwerken (im Verhältnis zur Breite der Straße). Es ist eine noble Einkaufsgegend mit teilweise sehr ausgefallenen Geschäften. Ebenso sehenswert sind die Auslagen.
Sie wandeln entlang, schauen hier, wechseln gelegentlich die Straßenseite, wenn ihr Auge meint, dort etwas Interessantes entdeckt zu haben. Ansonsten streben sie voran, denn schmale, lange, hoch eingerahmte Straßen lösen noch etwas aus.
Psychologen würden Ihnen vermutlich von einem gewissen Tunnelsyndrom in engen Gassen berichten. Wie in einem Tunnel, fühlen sich Menschen auch hier – oftmals völlig unbewusst – leicht unwohl. Irgendwie umzingelt, erdrückt.
Der Mensch schaut statt nach oben eher voraus, prüft, wann und wo sich das Licht am Ende zeigt. Er genießt – bis er dort ankommt – jede Ablenkung, die sich ihm bietet.
Man weiß, dass Autofahrer, die den Gotthard-Tunnel durchqueren, nervös das Radio lauter stellen, die Geschwindigkeit erhöhen, sich über den Fuchsschwanz an der Autoantenne des Vordermanns mokieren oder auch Notausgänge und eingelassene Wandbilder zählen.
Ihr Fußweg in einer Gasse ist im Prinzip gar nicht so viel anders. Auch Sie suchen wohltuende Zerstreuung, bis Sie am „befreienden“ Tunnelende eintreffen. Wenn wir es einmal ganz großzügig auslegen, dann ist Ihr gieriger Blick auf die Auslage lediglich reiner Selbstschutz …
Bauherren und ganz besonders natürlich Architekten, die damals Kontorhäuser in diesen sehr schmalen Straßen errichten wollten und dennoch mit einer gewissen Geschosshöhe liebäugelten, wussten darum und tricksten gern ein wenig, um genau dieses Tunnelgefühl zu vermeiden. Die oberen Geschosse vieler Bauten wurden häufig zurückversetzt gebaut. Die Fassade ist nicht durchgehend, sondern baut sich treppenförmig auf. Es verändert nicht nur die Optik, auf diese Art kann mehr Licht in schmale Gassen einfallen, und das Empfinden in einer Schlucht zu sein, ist weniger ausgeprägt.
Nachdem Sie nun die Umstände und auch Ihr mögliches Verhalten ein bisschen besser kennen, können wir zusammen vom Jungfernstieg in die Einbahnstraße „Neuer Wall“ einbiegen, um Ausschau nach einem Kontorhaus mit schöner Fassade und noch schönerem Foyer zu halten. Möchten Sie vorgehen …?
Halt! Sie sind schon dran vorbei!
Herrschaften! Was habe ich Ihnen gerade eben erzählt!?
(Hier denken Sie sich bitte den strengen Blick dazu)
Sie waren schon wieder mit den Augen nur in der Auslage, ließen sich vom geparkten Porsche ablenken und schauten mindestens dreimal, wo die Straße endet.
So wird das nichts!
Kommen Sie bitte zurück!
Wir sind hier vor dem Haus Nr. 18, dem sogenannten Hildebrand-Haus. Mittlerweile immerhin 105 Jahre alt!
Es wurde 1907/08 von Frejtag & Wurzbach erbaut, seine sehenswerte und recht üppig gegliederte Fassade stammt von George Radel und Richard Jacobssen. Manchmal erscheint auch der Name Franz Jacobssen. Das Denkmalschutzamt spricht gar von Arne Jacobsen, mit einem „s“. Nageln Sie mich also bitte nicht fest.
Es hat mich ziemlich verblüfft, wie schwierig es offenbar sein muss, den richtigen Namen aus Dokumenten zu übernehmen. Ich stelle es mir fast wie das Spiel „Stille Post“ vor. Mit jedem, der dazwischen als Vermittler der Information auftritt, wird mehr verfälscht.
Die auffällige Sandsteinfassade mit Füllungen in Bronze ist im Art Nouveau Stil gehalten und heutzutage doch ziemlich beeinträchtigt oder nennen wir es optisch verändert durch die Leuchtwerbung und neue Schaufenstereinbauten.
Bis 1984 befand sich hier das Ladengeschäft der Firma „Feinkost Heimerdinger“, welche jedoch aufgrund der erheblichen Mieterhöhungen die Räume aufgeben musste.
Betrachtet man einmal Fotos aus verschiedenen Jahren, bemerkt man, dass auch die Ladenmieter und ein Teil der Bewohner des Hauses immer wieder wechseln.
Eine Zeitlang gab es im ersten Obergeschoss das Café Engelchen. Später irgendwann kam die elixée Beauty Lounge und im Erdgeschoss, links des Eingangs, befand sich ein Geschäft mit dem Namen MAC (nicht Apple – in dem Fall Kosmetik/Parfum), rechts vom Eingang ist seit langer Zeit der Optiker Campbell.
Im November 2010 bezog das Traditionshaus Brahmfeld & Gutruf, Juweliere, dort seine neuen Räume und lenkt Sie erfolgreich durch seine Auslagen vom Wahrnehmen des Hauses und des Eingangs ab.
Allerdings nicht heute!
Heute sind wir hier, und wir werden Brillanten und Perlen komplett ignorieren und stattdessen jetzt einen Blick in den wirklich sehenswerten Eingangsbereich und in das Foyer selbst werfen.

Hildebrand-Haus- Aufwändige Verzierungen im Eingangsbereich zwischen der Außen- und der Innentür zum Foyer
Man hat liebevoll und aufwändig restauriert. Hier ist weitgehend der Originalzustand erhalten. Wir finden viele Materialien, Motive im Kleinmosaik, Marmorinkrustationen, einen Relieffries nach Bertel Thorvaldsen (-> dessen bekannter Alexanderfries den Triumphzug des mazedonischen Königs darstellt) und auch die Darstellung von Wikingerschiffen. Mir hat man erzählt, dass der Erbauer bzw. einer der Eigner des Hauses seinerzeit mit der Seefahrt zu tun hatte, viel herumkam und dass Griechenland ihn beeindruckt hatte. All dies beeinflusste die Auswahl der Motive im Foyer dieses Gebäudes.

Hamburg – Das Hildebrand-Haus – Eindrücke durch einen Griechenlandaufenthalt gaben Anlass für diese Szenen im Foyer – Ein Relieffries zeigt Alexander den Großen

Hamburg – Kontorhäuser – Hildebrand-Haus – … ein Blick an die Decke im Foyer. Der Relieffries, Marmorwände, eine Art Kassettenunterteilung in der Decke und nicht zuletzt eine interessante Beleuchtung
Ich muss Sie dazu einfach etwas fragen!
Wenn Sie herumkommen – nehmen wir eine Passquerung in den Alpen, Strandurlaub in der Karibik, Fernosttrip, Stadtbesuch in Hannover, Dudelsackfestival in Edinburg … – würden Sie dann auch gleich Ihr Haus oder Ihre Wohnung entsprechend gestalten?
Geröll ins Wohnzimmer stapeln, im Flur die Palmentapete kleben, Kiesel auf dem Balkon ausbreiten und Muster einharken, im Bad die Wasserkaskaden aus den Herrenhäuser Gärten nachstellen oder Dudelsackpfeife und Kilt an die Schlafzimmerwand pinnen?
Nicht?
Schauen Sie, da scheint sich im Laufe der Zeit auch etwas geändert zu haben. Wir kommen einfach zu viel herum! Es hinterlässt nicht mehr DEN Eindruck. Weder bei uns noch bei anderen, denen möglicherweise mit der Nachbildung daheim imponiert werden sollte. Kein unmittelbares Bedürfnis, sich das Erlebte direkt zu Hause in einer Form zu konservieren. Eher steht eine erneute Reise an den Originalschauplatz zur Debatte.
Sehr vielen reicht es heutzutage aus, mit der Digicam auf das Motiv zu halten, um später bei einem Anflug von Sentimentalität und Rührung am Laptop das Foto aus der Toskana auf Maximalgröße zu zoomen und vielleicht noch ein Fläschchen Wein dazu aufzumachen … Morgen ist dann der Schnappschuss vom Eiffelturm dran.
Doch zurück zum Hildebrand-Haus.
Im Gegensatz zu den sehr großzügig geschnittenen, teilweise mehrflügeligen Bauten der Gebäude im Kontorviertel im Südosten der Stadt, sind die Häuser hier – platzbedingt – von geringeren Ausmaßen. Beim Renovieren und Restaurieren erfordert es daher immer ein sehr geschicktes Händchen, wenn es darum geht, neue Erfordernisse und Sicherheitsaspekte (-vorschriften) zu berücksichtigen.
Reichten in Zeiten der Erbauung das Treppenhaus und vielleicht der ein oder andere Lastenaufzug, ist ein Haus heutzutage ohne Personenlift kaum denkbar. Daher wurden die typischen Treppenhäuser fast überall umgestaltet und in den Lichtschacht in der Mitte kurzerhand ein Aufzug integriert. Um den Effekt zu vermeiden, dass dadurch alles verbaut und dunkel wirkt, behilft man sich sehr oft damit, einen gläsernen Lift zu wählen, der nicht alles andere erschlägt und sich mit dem vorhandenen Stil durchaus verträgt.
Etwas später in dieser Serie zeige ich Ihnen auch ein Fahrstuhl-Modell, was für seine optimale und unauffällige Anpassung an die Gegebenheiten einen Preis gewonnen hat.
Hier im Hildebrand-Haus wurde es so gelöst: Schmaler Glaslift, klare Linien, Messingelemente, die sich gut den Braun- und Beigetönen des Foyers anpassen und ebenfalls mit dem Marmor harmonieren sowie Wiederaufnahme des Bodenmusters auch im Fahrstuhl selbst.

Hamburg-Kontorhäuser – Hildebrand-Haus – Moderner Personenaufzug, der nicht als das Bild störend empfunden wird.
Ist der Blick beim Betreten des Hauses schnell eingenommen von den beeindruckenden Eingangstüren, dem Licht, dem Deckendekor und schwer beschäftigt mit dem Ausblick auf Kommendes im Foyer, so fällt gelegentlich erst beim Hinausgehen auf, dass bereits dem Bereich vor der Eingangstür ebenso viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Auch hier enthalten Decke und Boden schöne Mosaikmuster.

Hamburg – Kontorhäuser – Hildebrandhaus – … wenn selbst der Fußabstreifer kunstvoll eingerahmt wird: Fußbodenmosaik im Eingangsbereich
So, wir sind wieder draußen angelangt.
Und? Wie gefällt Ihnen das Gebäude?
Genau. Kann man sich angucken.
Wie auch viele andere, die noch kommen. Teilweise ist es mehr die Fassade, teilweise wirklich das Treppenhaus mit schön gestalteten Geländern, manchmal der Eingangsbereich für sich, manchmal gibt es auch einen wunderbaren, weil unerwarteten und aus dieser Perspektive seltenen Ausblick aus dem oberen Stockwerk.
Das machen wir beim nächsten Mal!
Wir bleiben weiterhin in der Straße. Wir kreuzen wie ein Segler und schauen jeweils von der gegenüberliegenden Seite des Gehwegs auf die Fassaden.
Auf einmal sind dann diese Häuser da!
Die, von denen man geschworen hätte, dass es sie in dieser Straße noch nie gegeben hat …
Am Anfang stellten wir gemeinsam fest, dass Sie gar keine Pedanten sind. Sollten Sie dennoch bemängeln, dass der reine Nettoanteil zum Thema Hildebrand-Haus in diesem Bericht vielleicht 30 % beträgt, dann erwidere ich Ihnen durchaus charmant dieses:
Achten Sie einmal auf den Namen dieses Blogs.
Sie sind hier privat bei mir (Michèle). Sie schließen sich mir auf diesem Ausflug an. Ich nehme Sie mit. Das ist mein Angebot an Sie. Doch wenn Sie es annehmen, müssen Sie in diesem Fall auch mit meinen Gedanken(sprüngen) klarkommen (siehe Titel).
Dinge (und vor allem Menschen) auf dieser Welt stehen nie einzeln für sich alleine. Sie sind immer nur ein Teil des Ganzen.
Interessant werden sie erst, wenn man ihr Umfeld, das Drumherum erkundet. Den Zusammenhang sucht. Die Entwicklung verfolgt. Seine Gedanken schweifen lässt…
Sind dafür 70 % nicht geradezu lachhaft wenig …? ;)
Hinweis:
Wer die vorangegangenen Artikel verpasst hat, wird via nachstehende Links direkt fündig:
https://michelelegrand.wordpress.com/2012/08/17/demnachst-im-blog-hamburgs-kontorhauser-eine-kleine-einfuhrung-fur-sie/
https://michelelegrand.wordpress.com/2012/08/20/stilvolle-treppenhauser-schone-fassaden-eigenwilliges-interieur-der-charme-hamburger-kontorhauser-teil-i-darf-es-etwas-basiswissen-sein/
https://michelelegrand.wordpress.com/2012/08/25/stilvolle-treppenhauser-schone-fassaden-eigenwilliges-interieur-der-charme-hamburger-kontorhauser-teil-ii-der-laeiszhof-samt-paternoster-und-watt/
©Oktober 2012 by Michèle Legrand