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Mit der Bahn unterwegs: Marvin und die Big Five

Diorama  - Karlsruhe Hauptbahnhof

Diorama – Karlsruhe Hauptbahnhof

26. Dezember 2011.
Es ist Vormittag, und der ICE Richtung Zürich läuft soeben im Hamburger Hauptbahnhof ein. Die Feiertage sind schon fast vorbei, doch  der offenbar familiär bedingte Reiseverkehr ist weiterhin in vollem Gange, der Bahnsteig  proppevoll.  Alles drängt und quillt Richtung Zugtüren. Beeilung beim Einsteigen.
Das Reisegepäck wird hinter sich hergezerrt, unter Schnaufen vor sich hergeschoben oder mangels Bodenfreiheit über den Kopf gehievt und in olympiaverdächtiger Manier durch die Gänge gestemmt.
Die erste Aufregung war am Bahnhof bereits in dem Moment entstanden, als klar wurde, dass der Zug „andersherum“ einfahren würde und somit die Wagenstandsanzeige nicht mehr stimmte.
Die von links wetzten nach rechts, die anderen kamen von dort im Eilschritt entgegen.
Die, die nichts gelesen oder die Durchsage nicht verstanden hatten, schauten irritiert.
Es hatte sich gerade alles etwas entkrampft, doch nun schlugen die Herzen wieder schneller, und die Gemüter erregten sich, weil  alle feststellten, dass einfach zu wenig Platz für Koffer, Trolleys, Reisetaschen und Rucksäcke vorgesehen ist. Die ersten Reisenden gerieten bereits aneinander – teilweise körperlich durch Enge, teilweise verbal. Es entstanden lebhafte Diskussionen, welcher Koffer wo am besten untergebracht werden könnte, wobei hier wiederum die Meinungen naturgemäß auseinandergingen.
Es scheint grundsätzlich ein Ding der absoluten Unmöglichkeit für viele, ihr gutes Stück etwas weiter entfernt als über oder zumindest direkt an dem eigenen Sitzplatz zu wissen.
Unter denen, die mit Rucksäcken reisten, war wieder der übliche Prozentsatz derjenigen unterwegs, die  komplett vergessen, dass sie nach hinten reichlich Überlänge haben. Bloß gut, dass hier keiner mit langen Bretten oder Skiern reiste. Es wäre ein bisschen wie Slapstick.
Sie kennen sicher noch die Szenen aus alten Stummfilmen, in denen sehr gern sich wild um sich drehende Personen gezeigt werden, die beim Rotieren Mitmenschen mehrmals umrasieren.
Bis eine Viertelstunde nach Abfahrt im Bahnhof, herrschte noch wildes Durcheinander, dann kehrte langsam wieder Ruhe ein.

Ich fuhr auch schon   – unüblicherweise – in der 1. Klasse. Beim Buchen des Tickets waren in dem Fall die Spartarife der 2. Klasse ausverkauft gewesen, jedoch nicht die der 1. Klasse. So kam es, dass Reisen in der sonst teureren Klasse billiger war, als Fahren im Normalbereich. Ich habe für mich festgestellt, dass ich nicht gerne so feudal reise. In vielen Zügen sind Ledersitze, und die sind anfangs ziemlich kalt. Später gibt es sich, doch sie knirschen und knartzen weiterhin bei fast jeder Bewegung. Und mindestens ein oder zwei der ausklappbaren Fußstützen quietschen. Die Mitreisenden, die dort mit Kopfhörern sitzen und am Laptop hantieren, wippen besonders viel, bemerken aber aufgrund der Verstöpselung die Geräusche selbst meist nicht.
Andererseits – ganz objektiv betrachtet – angenehm für die Beine, ist eine derartige Stütze  schon …
Die Platzfreiheit und Breite der Gänge ist selbstredend ebenfalls lobenswert, genauso wie der massenhafte Platz für das Gepäck. Doch es ist irgendwie einsam dort. Man trifft dort viel auf ältere, gut situierte Herrschaften und auf Geschäftsreisende, die – wie ihr Name es schon sagt – furchtbar geschäftig am Werkeln sind mit ihrer ganzen Elektronik.
Ich muss das gerade sagen, nicht wahr? Ich, die selbst sehr häufig mit Laptop oder dergleichen unterwegs ist!
Was ist es dann wirklich? Langeweile?
Nein, die kenne ich nicht, außerdem habe ich  ein Buch dabei, dazu das obligatorische Notizbuch und meist – wie erwähnt – sogar das Notebook. Doch mir fehlt in der 1. Klasse einfach die Anregung.
Mir fehlt Leben!
Das bunte Durcheinander aus Passagieren, das sich Arrangieren mit den Unwägbarkeiten, die im Nicht-Luxus herrschen. Sicher, manchmal ist es lauter, doch oft ist dies nur der allgemein höhere Geräuschpegel, der nach gewisser Zeit einfach nicht mehr stört. Ich habe mir angewöhnt, mir einen Platz am Gang zu nehmen. Es erlaubt mehr Bewegungsfreiheit und bietet auch den  Luxus des ungefragten Aufstehens, des spontanen Umhergehens und des „sich Ausbreitens“ bei Bedarf.  Wie oft fühlte ich mich früher oder wenn für mich mitgebucht wurde, am Fensterplatz eingequetscht!
Außerdem herrscht so wesentlich mehr Sicht auf das Umfeld und ebenso spontan, wie ich den Platz verlassen kann, kann sich wiederum auch ein anderer entscheiden, mich zu besuchen.
Besuchen? Wer sollte sie besuchen? Fremde …?
(Vielleicht stellen Sie sich gerade diese Frage)
Ja, Fremde. Gewissermaßen.
Kinder tun es mit Vorliebe, und ich habe absolut nichts dagegen. Ich sehe es nicht als Babysitter-Job für die Dauer der Fahrt, mehr als gegenseitige Unterhaltung für eine gewisse Zeit.
Während der Rückfahrt am 28.12  von Karlsruhe nach Hamburg, erhielt ich auch wieder Besuch. Ein männlicher Gast stoppte bei mir. Eigentlich tapperte er nur aus Langeweile ziellos durch den Gang. Oder aus Abenteuerlust. Vielleicht hatte er auch Hummeln im Hintern. Blond. Ungefähr acht Jahre alt.
Es hielt ihn an meinem Sitz fest, weil ich in dem offiziellen Bahnheft blätterte. Als er kam, las ich gerade einen mit Fotos angereicherten Bericht über wilde Tiere in Südafrika. Abgebildet waren u. a. eine Giraffe und ein vermutlich brüllendes Flusspferd. Vielleicht gähnte es auch nur. Ich war mir nicht so sicher, denn das Heft war wie üblich ohne Ton.
Marvin – so hieß er, wie ich schon bald erfuhr – schaute mit Fotos an und beobachtete etwas abwartend, wie ich auf sein Herumstehen wohl reagieren würde. Ich sprach ihn auf meine Überlegung bezüglich des Flusspferdes an.
„Was würdest du denn sagen? Brüllt oder gähnt es?“
Er tippte auf Gähnen. Ich zeigte auf die beiden Löwen auf einem anderen Bild.
„Und die?“
„Die brüllen“, erwiderte er im Brustton der Überzeugung.
„Was macht dich denn so sicher?“
Er meinte, Löwen seien gefährlich und brüllten immer. Das bot Gesprächsstoff für die nächsten Minuten. Wir diskutierten, ob Löwen denn auch schlafen und wenn ja, wie lange und  mutmaßten dann, dass sie beim Schlafen wahrscheinlich nicht brüllten. Er schränkte daraufhin „immer“  ein. Sie brüllten natürlich nur im wachen Zustand!
Aber gefährlich, gefährlich wären sie immer. Auch beim Schlafen!
„Beim Schlafen auch?“, fragte ich ihn.
„Ja“, erklärte mir Marvin, „wenn ihnen dann nämlich jemand auf den Schwanz tritt, dann sind sie echt sauer und ziemlich gefährlich!“
Richtig. Man darf nicht einfach – egal wem – auf den Schwanz treten! Schon gar nicht im Schlaf …
Wir sprachen danach über die Giraffe und ihr tolles Muster und überlegten, ob die Zeichnung auch bei dieser Tierart immer ganz unterschiedlich wäre – so wie bei den Zebras. Marvin wollte gar nicht glauben, dass jedes Zebra eine andere Fellzeichnung hat und daran identifiziert werden kann – wie der Mensch am Fingerabdruck.
Er kehrte also zwischendurch zu seinen Eltern zurück, um meine Glaubwürdigkeit zu checken. Nach drei Minuten war er wieder da – mit seiner Mutter, die herausfinden wollte, ob er anderen Mitreisenden zu sehr auf die Pelle rückte. Ich versprach ihr, Marvin direkt mitzuteilen, wenn ich wieder meine Ruhe wollte, aber bisher traf dies nicht zu.
Ihn interessierte, ob ich den ganzen Artikel im Heft schon gelesen hätte und was denn dort so stände. Ich verriet ihm, dass ich jetzt gelernt hätte, was die Big Five seien.
Big Five?“
Er konnte mit den englischen Worten schon etwas anfangen, denn er geht in die zweite Klasse und hat in der Grundschule bereits ein wenig Englischunterricht. Nur die genaue Bedeutung von diesenBig Five“ war ihm natürlich – wie auch mir vorher – nicht geläufig.
„Was soll das denn sein?“
„Marvin, üblicherweise sind es die fünf großen Tierarten, die Menschen bei einer Safari gesehen haben sollten, doch hier steht noch etwas anderes. Es sind die wilden Tiere, die in der Region dort lebten (es geht um Südafrika, die Provinz Kwu-Zala-Land und den Zembe Elephant Park an der Grenze zu Mosambik) und sehr schwer zu jagen waren. Sie nennt man die „Großen Fünf„. Dazu zählen der Elefant, der Löwe, das Nashorn, der Leopard und der Büffel. Und wenn von früher die Rede ist, dann ist die Zeit gemeint, in der diese Tiere noch gejagt werden durften. Heute stehen sie allesamt unter Schutz.“
Er lässt es ein wenig sacken und schaut noch einmal auf die Fotos im Heft.
„Und was ist mit der Giraffe?“
„Mit der Giraffe? Was genau meinst du denn?“
„Na, ist die auch eine Bickpfeif?“
„Nein, sie zählt nicht dazu.“
Das verstand Marvin nicht.
„Aber sie ist doch größer als das Nashorn!“
„Offenbar ließ sie sich aber leichter jagen und ist sicher auch weniger gefährlich für den Menschen.“
Wir rätseln noch darüber, warum nicht auch das Flusspferd oder das Krokodil dazu zählen, denn so harmlos sollen diese Tiere ja wirklich nicht sein.
„Vielleicht wollte die ja gar keiner jagen“, vermutete Marvin, und das muss man erst einmal widerlegen.
„Wenn es die großen Fünf gibt, gibt es dann auch die kleinen Fünf?“, fragte der junge Mann jetzt.
Ich finde, dies ist eine typische Kinderfrage. Und ich meine es absolut nicht abwertend! Nein, es ist eine absolut logische Frage, und die ist sehr typisch für Kinder.
Gut, dass ich schon weitergelesen hatte, denn zwei Seiten später tauchten sie tatsächlich auf: die sogenannten „Small Five„, ebenfalls Tiere, die geschützt sind. Diesmal sind es Ameisenlöwe,  Leopardenschildkröte, Büffelweber,  Nashornkäfer und Elefantenspitzmaus.
Marvin war beruhigt.
Es blieb noch etwas Zeit, über die kleinen Fünf zu sprechen, denn der Achtjährige möchte mehr zum Büffelweber („Das ist ein Vogel? Echt?“)  und der Leopardenschildkröte wissen.  Ich habe schon ein Foto von einer gesehen, allerdings nicht hier – in diesem Heft.
„Der Panzer der Schildkröte sieht von den Farben und vom Muster her ein bisschen so aus wie das Fell eines Leoparden“, versuche ich ihm den Namen des Panzertiers verständlich zu machen.
„Die Schildkröte hat aber keine Haare, oder?“, fragte er vorsichtshalber noch nach.
„Nein, aber Flecken wie der Leopard“, klärte ich ihn auf.
Ich las ihm eine Zeile im Text vor, die mir gerade ins Auge fiel. Sie besagte, das der Urin eines Leoparden nach Popcorn und Erdnussbutter riecht (oder stinkt). Marvin  war schwer beeindruckt.
„Popcorn esse ich manchmal im Kino“, verriet er mir, „das riecht ganz schön doll …!“
„Kannst ja den anderen sagen, ein Leopard war grad dort  …“
STOPP, ich darf Kindern nicht solche Tipps geben!
Zu spät.
Leider fand er die Idee auch noch gut …
Wir näherten uns inzwischen Frankfurt, dem Zielbahnhof der Familie des Jungen. Sein Vater war es diesmal, der Alarm schlug und ihn holen kam.
„Schon?“
Marvin war völlig überrascht. Sein Zeitgefühl hatte ihn verlassen. Doch so interessiert er eben noch gewesen war, so schnell schwang er nun um auf Aussteigen müssen, und prompt stiegen Hektik und Sorge in ihm auf, ob er noch rechtzeitig hinauskäme.
Dabei fuhr der Zug noch nicht einmal langsamer!
Husch, weg war er, und ich hatte meine Armlehne sowie das Heft wieder für mich. Ich hörte gerade noch, wie er beim Weggehen fragte:
„Papa, kennst du den Büffelweber?“
Ich hoffe,  sein Papa kam daraufhin nicht zu sehr ins Schwitzen. Andererseits, falls er es nicht wusste, würde er jetzt durch Sohnemann etwas lernen.
Ich schaute hinaus, ein bisschen Skyline von Frankfurt tauchte auf. Mal schauen, was sich hier im Bahnhof so ereignen würde. Neues Gepäck musste schließlich wieder verstaut werden …
Ich lehnte mich zurück in das Polster. Stoffpolster wohlgemerkt. Es lebe die zweite Klasse!
Was freute ich mich auf daheim! Noch gut drei Stunden, dann hätte Hamburg mich wieder.
Nach Hause kommen ist doch was Feines.

PS Ich habe unterwegs noch zwei, drei Dinge erspäht, die ich im nächsten Blogpost gerne teilen würde.
Es würde mich freuen, wenn Sie wieder mit dabei wären …

©Dezember 2011 by Michèle Legrand

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