Griseldis

Sie sind flexibel, oder? Für große Touren, neue Fotos oder auch Recherche war die letzte Woche nicht gemacht. Ja, ja, die Zeit. Ewig das Dilemma mit ihrer häufig knappen Verfügbarkeit.
Ich hätte allerdings heute alternativ Griseldis für Sie.

Bus, U-Bahn, Zug. Grundsätzlich bin ich für Lesestoff zur Überbrückung der Fahrzeit überaus empfänglich, doch hin und wieder verleiten reizvolle Gespräche der anderen Fahrgäste zum Aufhorchen. Dann bleibt das Buch in der Tasche, bestenfalls zücke ich irgendwann kurz meinen Notizblock und hinterlasse eine Handvoll Stenokürzel. Als Gedankenstütze, weil mir klar ist, irgendwann erzähle ich Ihnen sicherlich davon.

Letzten Monat während einer U-Bahn-Fahrt geschah es. Ausgesprochen ins Detail gehen die vorhandenen Notizen nicht, und so muss ich diesmal recht frei erzählen, mir ist nicht mehr jede Einzelheit des Dialogs im Gedächtnis.
An dem Tag saßen mit mir im Waggon in Blicknähe bzw. Hörweite eine kleine, alte Dame und eine junge, schwangere Frau. Wenn es nicht so blöd klingen würde, hätte ich fast gesagt, sie befanden sich eine Armlänge entfernt, doch diesen Begriff vermeide ich seit einiger Zeit wie die Pest …

Die werdende Mutter strich sich mit der Hand sanft über den schon deutlich gerundeten Bauch. Plötzlich zuckte sie heftig zusammen und verzog ihr Gesicht:
„Autsch! Jetzt geht das wieder los!“
Sie massierte seitlich eine Stelle unterhalb des Rippenbogens, im Bereich zwischen Niere und Milz.
„Tritt sie wieder?“, fragte die grauhaarige Dame an ihrer Seite.
„Und wie!“, stöhnte die junge Frau, „wüsste ich nicht, dass es ein Mädchen wird, würde ich sagen, ich brüte einen Fußballer aus.“ Sie behielt ihre Hand vorsorglich weiterhin an der bewussten Stelle. „Obwohl – Mädchen spielen ja auch …“
„Na, bald hast du es geschafft. Dann ist wieder mehr Platz im Bauch.“
„Hoffentlich kommt sie pünktlich und nicht erst nach dem Termin!“ Eine kleine Pause entstand. „Ach, Oma, Mama meint ja, so pflegeleicht wie im Bauch wird’s mit dem Baby nie wieder.“
Die Oma nickte. „Stimmt. Es wird auch nie wieder so leise.“
„Du machst mir ja echt Mut!“, erwiderte ihre Enkelin.
„Sag mal, habt ihr euch denn nun schon für einen Namen entschieden?“
„Gerrit findet Josie schön. Ich aber nicht so.“
„Und was ist dein Favorit, Kind?“
„Ich würde sie Stine nennen.“
Stine?“
„Ja, Oma, gefällt es dir nicht?“
„Doch …, schon … So rundherum begeistert wirkte sie nicht.
„Jetzt sag nicht, du würdest Josie nehmen!“
„Na ja, ob jetzt Stine oder Josie …, ach, ihr müsst selbst wissen, welcher Name zu eurer Tochter passt.“
„Das sieht man vielleicht erst, wenn sie da ist, Oma, oder?“
„Könnte sein, ich stelle mir jedenfalls ein hellblondes Kind mit dem Namen Carmen eigenartig vor. Ist aber nur meine Meinung! Ein Gefühl! Carmen verbinde ich mit Flamenco, Spanien, dunkleren Typen.“
„Sie soll ja nicht Carmen heißen.“
„Das weiß ich doch, Liebes, es war doch nur ein Beispiel!“
Eine Minute herrschte Schweigen, dann hakte die Enkelin nach:
„Welchen Namen würdest du denn vorschlagen?“
„Ich?
„Ja, du.“
„Griseldis.“
„Griseldis? Oma! Das ist so was von alt und unmodern!“
Stine nicht?“
„Stine heißt man heute doch auch! Wo hast du denn den Namen Griseldis überhaupt her?“
Die alte Dame stockte einen kurzen Moment, doch dann verriet sie:
„Ach, so hieß die Heldin eines Romans, den ich in jungen Jahren gelesen habe.“
„Und was hat die Heldin gemacht?“, erkundigte sich die Schwangere, „Kissen bestickt?“
Die Großmutter lachte herzerfrischend auf.
„Ja, das auch! Nein, ich weiß es gar nicht mehr so ganz genau, ich meine, sie war in einem hochherrschaftlichen Haus als Gouvernante eines kleinen Mädchens angestellt. Griseldis – bildhübsch, intelligent, adlig, aber total verarmt. Sie musste also arbeiten. Und damit das alles nicht so tutig rüberkam, gab es noch etwas Krimihandlung dazu.
Die junge, rechtschaffene Gouvernante verliebt sich in den attraktiven, aber traurigen Schlossherrn. Der steht dummerweise unter Mordverdacht. Der Graf soll seine Frau umgebracht haben. Weil man ihm das allerdings nicht beweisen kann, ist er weiterhin frei! Aber diese Schmach! Du verstehst? Zweifel, Ungewissheit! Schwere Schuld! Aber seine? Dem Glück sind jedenfalls viele Steine in den Weg gelegt.
Obendrein gab es eine weitere Verwandte, die schwer hinter ihm her war, nur die war natürlich die Ultraböse. Sie war eine Gefahr für alle, doch ehe die das mal gemerkt haben! Das dauerte eine Weile! Die kleine Tochter des Witwers mag natürlich nur die nette Griseldis und nicht diese gern auch schleimende Hexe, die um die Gunst ihres Vaters buhlt. Die Zuneigung der Kleinen zu ihrer jungen Betreuerin schürt bei der Rivalin zusätzlich Hass und steigert die Eifersucht.
Zu guter Letzt findet Griseldis heraus, dass die andere Frau und nicht etwa der edle Graf für den Tod der ersten Gräfin zuständig war. Selbstverständlich gerät sie durch ihre Nachforschungen noch einmal in allerhöchste Not! Im letzten Moment wird sie gerettet! Ende gut, alles gut.
Frag mich nicht, was mit der Bösen passierte. Knast, Selbstmord, Exil … Ich habe keine Ahnung mehr!“

Die Enkelin hatte sehr gefesselt gelauscht. Doch dann brach es aus ihr heraus:
„Oma! Eine adlige Gouvernante! Gou-ver-nan-te! Auch die sind ausgestorben!“
„Ja, und?
„Ich meine ja nur. Also ein Baby von heute, mit dem Hang zum Fußball und dann …Griseldis? Ich weiß nicht. Wenn ich den Namen höre, stelle ich mir jetzt automatisch immer die zarte, verarmte Gouvernante vor.“
„Ich finde den Namen sehr schön. Fand ich schon immer. Und so heißt nicht jeder.“, beharrte die alte Dame.
„Oma, wenn dir der Name schon damals so gefiel, warum hast du denn dann Mama nicht Griseldis genannt?“
„Ach, Kind, du weißt, dein Opa ist ein sehr durchsetzungsfreudiger Mensch …“
„Er mochte ihn also nicht?“
„Nicht genug. Und wir haben uns ja auf einen anderen einigen können – nach einigem Hin und Her.“ Sie schaute der jungen Frau auf einmal betont harmlos ins Gesicht und säuselte: „Na ja, ich hatte ja immer die Hoffnung, dass wenigstens mal meine Enkelin …“
„Hör auf, Oma! Du kriegst mich nicht weich.“
Und von da an wurde um das heikle Thema Namensgebung ein großer Bogen gemacht …

Nun bin ich gespannt, ob ich die Damen vielleicht einmal wiedertreffe, wenn der Nachwuchs auf der Welt ist. Dann hake ich nach und frage, wie das Baby heißt.
(„Sie heißt Griseldis? – Bitte? – Sogar mehrere Namen? Nein, tatsächlich? Und welche …?
Ah, Griseldis Josie Stine …“)

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Haben Sie ein sonniges Wochenende! Bis demnächst!
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© by Michèle Legrand, März 2016
Michèle Legrand - freie Autorin - Michèle. Gedanken(sprünge) @wordpress.com

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  1. #1 von juckplotz am 13/03/2016 - 08:21

    Eine schöne Geschichte für den Sonntagmorgen. Gespräche zwischen Oma und Enkelin sind meist intensiver und von mehr Verständnis geprägt als zwischen Mutter und Tochter.
    Ich wünsche allen einen schönen Tag

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    • #2 von ladyfromhamburg am 13/03/2016 - 12:00

      Großmütter haben auch eine andere Funktion und können einige „unbeliebte“ Dinge, die Mütter als (Erziehungs-)Aufgaben haben und die beim Nachwuchs nicht so begeistert aufgenommen werden, weit von sich schieben. Das, was gelegentlich das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter belastet, ist dadurch häufig überhaupt kein Thema zwischen Enkelin und Oma. Die Großmutter hat den Vorteil der Erfahrung mit Kindern, kennt ihr eigenes Kind als Mutter ihrer Enkelkinder und ist im Idealfall dann Vermittler, Tröster, zweite Meinung etc.
      Wer nicht mehr in der Elternfunktion für einen Menschen und sein Wohlergehen zunächst komplett verantwortlich ist, sondern es nur gern von Zeit zu Zeit aus freien Stücken übernimmt, geht entspannter an alles heran und das trägt zum ruhigen und intensiven Gespräch häufig bei.
      Jedenfalls bastele ich mir gerade so eine Theorie zurecht, weil mich dein Satz beschäftigt hat.

      Auch dir einen schönen Tag und danke fürs Lesen und Kommentieren!
      LG Michèle

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  2. #3 von leonieloewin am 13/03/2016 - 08:37

    Danke für die nette Morgengeschichte. So ist das mit den Namen. Sie unterliegen dem Zeitgeschmack, der von Zeit zu Zeit wieder retro hervorholt. Und dann wird auch Griseldis wieder da sein. Liebe Grüße zu Dir nach Hamburg, Leonie

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    • #4 von ladyfromhamburg am 13/03/2016 - 12:10

      Hallo Leonie, danke für deine Reaktion! Ich könnte mir auch vorstellen, dass der Name wieder aktuell wird. Wir haben Klara, Emma etc. oder bei den Jungen z. B. Paul ganz vorne auf der Favoritenliste, und diese Namen sind nun eindeutig auch retro hervorgekramt.
      Sobald es irgendeine Person gibt, die ihrem Kind diesen Namen gibt, vielleicht noch ein bekannter Schauspieler oder Sportler, ist meist ein Anfang gemacht. Kommt neben der reinen Namenssympathie noch eine Personensympathie hinzu, gibt es kein Halten und plötzlich heißt eine ganzes Völkchen Armgard oder Hermann.
      Wir werden das jetzt einfach weiter beobachten, nicht wahr? ^^

      LG auch zurück zu dir nach Teneriffa!
      Michèle

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  3. #5 von Plietsche Jung am 13/03/2016 - 09:36

    Eine hübsche Geschichte aus dem Leben.

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  4. #7 von marliesgierls am 13/03/2016 - 18:33

    Ein schwieriges Thema, die Namensgebung des Kindes, ich erinnere mich noch gut, obwohl es nun 28 Jahre her ist. Das war ein richtiger Kampf, bis wir was gefunden hatten, womit wir beide leben konnten und dann hoffentlich auch unser Sohn, hat ganz gut geklappt.
    Aber Griseldis habe ich noch nie gehört und so würde ich auch nicht so gerne heißen. Aber da hat man ja leider nichts zu sagen, ganz schön gemein.
    Einen schönen Sonntagabend, liebe Grüße
    Marlies ( damit bin ich ganz zufrieden!)

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    • #8 von juckplotz am 13/03/2016 - 22:12

      Beliebt hier im schwäbischen Süden sind auch Kombinationen wie “Virginia [Wierdschienia] Kächele“
      ….
      Aber das Beste passierte vir Jahren in der weiteren Verwandtschaft, als die stolze Oma uns verkündete, dass sie einen Enkel habe. Nur an den Namen konnte sie sich nicht so richtig erinnern…. irgendwas mit Käse…. Kefir, ja richtig Kefir heisse der Arme
      Natürlich hat er Kevin geheissen bzw. heisst heute noch so

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    • #10 von ladyfromhamburg am 14/03/2016 - 17:21

      Wie schön, dass du mit deinem für dich ausgesuchten Vornamen gut klarkommst, Marlies. ^^ Was soll man auch sonst machen … Es ist ja wie du sagst: Wenn man erst einmal alt genug ist, um sich daran zu stören, ist das Kind ja schon längst in den Brunnen gefallen. Nichts mehr zu ändern.

      Als Mutter von heute würde ich eventuell zwei Vornamen geben. Den von mir bzw. dem Vater und mir bevorzugten, aber auch einen relativ neutralen, zeitlosen zweiten Vornamen. Wäre der Nachwuchs zu irgendeinem späteren Zeitpunkt aus welchem Grund auch immer todunglücklich mit dem einen, bestände noch die Möglichkeit, ganz offiziell den anderen als Rufnamen zu führen.
      Nur generell haben Menschen recht häufig als tatsächlichen Rufnamen sowieso einen abweichenden Namen oder eine Kose-/Kurzform. Das erfüllt oft bereits ausreichend den Zweck, einen nicht ganz so berauschenden Namen etwas zu verändern.

      Eine gute Woche wünsche ich dir! Liebe Grüße!
      Michèle

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      • #11 von marliesgierls am 14/03/2016 - 17:52

        So haben wir es auch gemacht, unser Sohn hat auf Wunsch meines Mannes 2 Vornamen und die werden auch abwechselnd von anderen benutzt, er selber nimmt den ersten. Eine Kurzform finde ich auch schön, das hat mich als einziges bei meinem gestört, da kam höchstens mal Lieschen raus , und das war nicht das, was ich hören wollte!
        Dir auch eine gute Woche, liebe Grüße Marlies

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  5. #12 von ernstblumenstein am 14/03/2016 - 09:39

    Vielen Dank Michèle für diese schöne Geschichte aus dem Leben. Eigentlich ist in deiner Erzählung und in den Kommentaren alles Wichtige gesagt respektive geschrieben worden. Gespräche zwischen Grosseltern und Enkeln finden spontaner, quasi „mir nichts dir nichts“ statt. Dies stellte ich übrigens auch fest, wenn ich meinen Enkel/innen manchmal über meine Escapaden in jungen Jahren erzählte; darüber aber bei meinen Töchtern eher Zurückhaltung übte.
    Ich glaube auch, dass Griseldis eines fernen Tages wieder ‚in‘ sein wird.
    Hab eine frohe Woche und einen lieben Gruss. Ernst

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    • #13 von ladyfromhamburg am 14/03/2016 - 17:31

      Hallo Ernst, ich danke dir für deine Zeilen! Nach deinem Beispiel kann ich mir gut vorstellen, dass man als Großelternteil gegenüber den Enkeln sein Verhalten nicht so extrem kritisch beäugt und seine Wortwahl nicht so überprüft wie zu Zeiten, als es um die eigenen Kinder ging. Aber mittlerweile haben sich auch die Zeiten gelockert, so dass „Eskapaden“, die vor 20, 30 oder mehr Jahren den eigenen Nachwuchs und die Umwelt geschockt hätten, heute nur milde belächelt werden und als völlig okay und normal gelten.
      Mir sind mittlerweile aber auch ein paar Beispiele eingefallen, wo das Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln nicht so ungetrübt ist bzw. die Gespräche nicht so locker-flockig laufen. Genau aus dem Grund nämlich, dass sich so viel in der Zwischenzeit getan hat, manchmal gefühlt halbe Welten dazwischenliegen und nicht immer für alles das gegenseitige Verständnis da ist. Manche finden auch sehr schwer im Gespräch zueinander.
      Schön für jeden, bei dem es anders ist und generationenübergreifend ein gemeinsamer roter Faden gesponnen wird.

      Dir auch eine schöne Woche!
      Liebe Grüße
      Michèle

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  6. #14 von kowkla123 am 14/03/2016 - 14:19

    wieder toll geschrieben, bin wie immer begeistert, eine gute Woche wünsche ich dir

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    • #15 von ladyfromhamburg am 14/03/2016 - 17:33

      Freut mich natürlich sehr, Klaus! Vielen Dank!
      Liebe Grüße auch zurück!
      Michèle

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  7. #16 von Garden Walk Garden Talk am 16/03/2016 - 01:01

    Picking baby names must be hard for mothers. You get so many people offering suggestions. I never heard the name Stine though. Today, so many mothers choose unusual names from literature. Popular names here are some from the books by George R.R. Martin. They change the spelling, but the pronunciation is the same.

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    • #17 von ladyfromhamburg am 16/03/2016 - 21:13

      Interesting to learn that sometimes pronunciation remains unchanged although spelling changes. (Why do they change the spelling then?)
      Donna, they say Stine is an abbreviation of the name Christine (or Ernestine and similiar names). They don’t use such abbreviation very much in Southern regions of my country, but where I live, in the Northern part of Germany, it’s sometimes used by people who still speak the vernacular „Plattdeutsch“ or an idiom which is called „niederdeutsch“.

      Thanks for commenting and visiting the blog!

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      • #18 von Garden Walk Garden Talk am 17/03/2016 - 16:50

        I think they change spelling to be different. The invented names of fiction like Game of Thrones characters are getting rather popular. Khaleesi and Arya are names for girls. Kaleisi is one way they changed it.

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      • #19 von ladyfromhamburg am 18/03/2016 - 18:38

        Thanks for your examples. It’s now much easier to imagine, Donna.

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  8. #20 von kowkla123 am 16/03/2016 - 14:20

    guten Start in die zweite Wochenhälfte

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