Als Viktor Ostern schwarz sah …

„Ja, ja, du auch. Tschüs, mien Jung.“
Viktor steckte das mobile Telefonteil zurück in die Ladestation, seufzte und rieb sein heiß gewordenes Ohr. Bleibst du jetzt wohl still, du! Er starrte sein Telefon finster an. Langsam, aber sicher, ging es ihm doch etwas auf die Nerven. Weniger das Telefon selbst, als vielmehr sein hartnäckiger Neffe …

Wieder einmal – nun bereits das dritte Mal in zwei Tagen – hatte Henning bei ihm angerufen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Der Neffe hatte es natürlich unauffällig versucht, ihn jedes Mal zunächst über eine halbe Stunde im munteren Plauderton mit diversen Belanglosigkeiten berieselt. Er hatte förmlich gespürt, wie der Junge krampfhaft nach unverfänglichem Gesprächsstoff gesucht hatte. Erst als ihm die Erzählideen ausgegangen waren – was wenig verwunderlich war angesichts der Häufigkeit seiner Anrufe und der wenigen Ereignisse, die dazwischen neu hatten passieren können -, hatte er sich zögerlich verabschiedet. Nur im letzten Satz hatte es das Bürschchen dann doch nicht lassen können, erneut nachzufragen, ob bei seinem Onkel Viktor auch alles in Ordnung sei.
„Geht’s dir gut soweit?“
Der Knabe war wirklich herzensgut, doch sorgte er sich immer viel zu sehr um seinen alten Onkel. Alt mochte sein Neffe gar nicht hören. Früher hätte er Henning zugestimmt, dass 62 Jahre meilenweit entfernt von alt waren. Doch früher war auch alles anders gewesen. Da war leben noch erleben und weniger überleben gewesen. Er atmete tief durch.
Nein, nur weil er kürzlich diesen kleinen Durchhänger gehabt hatte, musste der Jung jetzt nicht ständig um ihn herumglucken. Mensch, Henning!
Es ging ihm doch schon wieder wesentlich besser! Zumindest hin und wieder.

Viktor und sein Neffe hatten ein besonders enges Verhältnis seit dessen Vater, Viktors Bruder, vor zehn Jahren verstorben war. Aus heiterem Himmel. Er hatte morgens friedlich an der Bushaltestelle auf seinen Bus gewartet, war einfach umgekippt und nicht wieder aufgestanden. Ende. Tod durch plötzlichen Herzstillstand hatte man bei der Obduktion festgestellt.
Henning, der damals kurz vor seinem Schulabschluss stand, hatte es den Boden unter den Füßen weggezogen. Nach Anne, seiner Mutter, war nun auch Konstantin, sein Vater, nicht mehr da.
Und Viktor selbst hatte ebenfalls große Mühe gehabt, diesen Schlag zu verkraften, denn auch seine Beziehung zum nur ein Jahr älteren Bruder, war von jeher eine überaus innige gewesen. Nathalie, seine Frau, half ihm damals sehr. Sie hatte mit ihm getrauert, ihn gleichzeitig jedoch wieder aufgerichtet. Sie beide besaßen keine eigenen Kinder, wohl aber ein Patenkind. Henning. Ihr Neffe hatte zunächst – und sogar noch während des Studiums – bei ihnen gewohnt. Er kam auch, als er einen Job angetreten hatte und seine eigene Wohnung in der Nähe fand, weiterhin vorbei. Diese Gewohnheit hatte sich sogar intensiviert, als sechs Jahre darauf auch Nathalie gehen musste. Und wieder hatten sie sich gegenseitig geholfen …

Vier lange Jahre waren seit Nathalies Tod inzwischen vergangen. Grundsätzlich kam er gut mit allem klar. Er funktionierte zumindest. Er vermisste sie nach wie vor, es gab keinen einzigen Tag, an dem es ihm nicht so erging, jedoch schien er im Laufe der Zeit innerlich ein bisschen „abzustumpfen“, so dass die leere Bettseite in der Nacht und der unbenutzte Platz am Küchentisch am Morgen ihn nicht mehr so schockten wie zu Beginn. Er redete häufig mit ihr. Jemand, der ihn durch das Fenster beobachtete, würde denken, er führte Selbstgespräche.
Nein, er sprach mit ihr. Punkt.

Vor einem halben Jahr meinte er, eine Besserung festzustellen. Sein Befinden, seine Stimmung schien sich positiv zu ändern. Er fühlte sich manchmal gelöster. Irgendetwas schien die schweren, blickdichten Vorhänge aufzuziehen, die immer vor ihm hingen und alles grau erscheinen ließen.  Er registrierte  wieder viele Dinge um sich herum, bemerkte die Natur, achtete mehr auf sich. Auch auf sein Äußeres. Im Spätherbst war in dem Haus, in dem er im ersten Stockwerk eine Wohnung besaß, jemand Neues eingezogen. Direkt ihm gegenüber auf seiner Etage.

Ihm machten allerdings einige Daten im Jahr zu schaffen. Jahrestage. Der Hochzeitstag, Nathalies Geburtstag, das Datum, an dem sie starb, Weihnachten … Neulich erst war ihr vierter Todestag gewesen, und er war mit dem Fahrrad zum Friedhof gefahren. Hatte Blumen dabeigehabt und wollte mit ihr reden. Sie besuchen.
Es gab Menschen, die verstanden nicht, wenn er von einem Besuch sprach. Doch, man besuchte seine Vertrauten auf dem Friedhof! Sie wohnten ja schließlich jetzt dort!

Er fand es schön an diesem Ort, soweit ein Friedhof eben schön sein konnte. Er genoss die Ruhe, und sie hatte einen wunderbaren Platz unter einer großen, alten Buche. Die spendete ihr auch im Sommer Schatten. Nathalie musste doch immer aufpassen mit der Sonne. Wegen der hellen Haut …
An dem Tag hatte er bemerkt, dass jemand die Gießkanne geklaut hatte, die immer hinter ihrem Grabstein deponiert war. Er hatte sich geärgert über Diebe, die selbst auf Friedhöfen keine Skrupel zeigten und Dinge mitgehen ließen. Manchmal sogar Pflanzen ausbuddelten oder Lichter und Engel stahlen. Er ging den Weg zurück bis zum Wasserbecken, um nachzusehen, ob dort Kannen standen, die man gegen Pfand entleihen konnte. Zu seiner Verwunderung entdeckte er seine eigene unter ihnen. Offenbar war nur jemand zu faul gewesen, sie nach dem „Ausborgen“ wieder zum Grab zurückzubringen.
Er hatte sie gefüllt und den langen Weg zurückgetragen, hatte nicht auf den Boden geachtet und war bei einer Unebenheit der Platten gestürzt. Die Kanne fiel mit, das Wasser schoss im hohen Bogen hinaus und traf natürlich ihn. Komplett! Er hatte geflucht, dann aber versucht, vorsichtig aufzustehen. Die Hose war kaputt, das Schienbein aufgeschlagen, blutig und es schmerzte. Er war mit dem Handgelenk umgeknickt, aber es schien nichts gebrochen zu sein. Wahrscheinlich verstaucht. Er hatte sich erhoben, war humpelnd bis zum Grab gelangt, hatte die blöde Kanne wieder hinter den Stein gepackt, wo sie hingehörte und Nathalie versprochen, er würde bald wiederkommen. Ihm sei nur sehr kalt in den nassen Sachen. Kein Wunder Mitte März. Die Rückfahrt auf dem Rad ging langsam vonstatten und kühlte ihn weiter aus.

Kurz und gut, die Folge war, er hatte sich gehörig einen aufgesackt. Eine dicke Erkältung plagte ihn. Die Wunde am Schienbein hatte sich zudem entzündet, eiterte und weil er, bockig, wie er nun manchmal war, nicht gleich zum Arzt wollte, mussten ihn erst Fieber und vor allem Henning überzeugen, dass jetzt Schluss mit lustig sei.
In dieser Zeit nach dem Missgeschick draußen, waren die Anrufe von Henning häufiger geworden.
Ihm selbst waren diese hässliche Wunde oder das steigende Fieber anfangs völlig egal gewesen. Angst hatte ihm aber gemacht, dass er dieses Gefühl von Verlassenheit, Einsamkeit, diese wachsende Teilnahmslosigkeit wieder an sich bemerkte, kaum dass er gedacht hatte, es würde alles besser.
Hennings Antennen mussten voll ausgefahren gewesen sein, dachte Viktor, denn sein Neffe hatte ihn am achten Tag nach dem Vorfall bei seinem Besuch nur einmal intensiv angeschaut,  jegliches Spektakel und jeglichen Protest seinerseits ignoriert, ihn ohne Diskussion zum Doktor geschleift und von dort aus ins Krankenhaus. Die Wunde war verarztet worden, er hatte Medikamente gegen die Entzündung bekommen. Komplikationen tauchten auf. Zwölf Tage hatte er letztendlich bleiben müssen. Die Tage der Umsorgtheit hatten ihm geholfen. Er war ruhiger geworden, schlief viel.

Als er endlich heim durfte, hatte sein Neffe ihn mit dem Auto abgeholt.
„Wie fühlst du dich?“, fragte Henning und schaute besorgt zu seinem Onkel auf dem Beifahrersitz.
„Mir geht’s gut!“, grummelte Viktor. Im nächsten Moment tat ihm sein Verhalten leid, und er entschuldigte sich. „Es geht mir besser, Henning, die Entzündung bildet sich gut zurück. Danke, dass du mich zum Arzt gebracht hast. Und danke auch jetzt fürs Abholen.“
Sie fuhren auf eine Kreuzung zu. Viktor wunderte sich, dass Henning nicht die linke Abbiegespur wählte.
„Wo fahren wir denn hin? Wir müssen doch hier nach links!“
„Nein, wir setzen uns jetzt noch auf einen Kaffee zusammen und danach bringe ich dich heim“, entgegnete Henning in einem Ton, der keine Widerrede duldete.
Viktors Mund, der sich schon halb zum Sprechen geöffnet hatte, klappte überrascht zu.
Fünf Minuten später hielt der Wagen vor einem kleinen Café, in dem sie auch früher mit Nathalie oft gewesen waren. Viktor stöhnte. Hier hatten immer wichtige Gespräche, Ankündigungen, Aussprachen stattgefunden …

Henning lotste ihn an einen Platz am Fenster, fragte, ob er genügend Platz hätte, das Bein auszustrecken oder ob er es vielleicht hochlegen wollte. Viktor bremste Henning, erklärte, alles sei bestens und er solle zur Sache kommen, was dieser auch tat.
„Viktor, sag mir eins“, begann er,  „es schien mir, als wenn es dir Anfang des Jahres wesentlich besser ging, als all die Zeit zuvor. Ich überlegte wirklich, ob du vielleicht jemanden kennengelernt hast, neue Kontakte geknüpft hast, die dir guttun – aber dann kam der Vorfall auf dem Friedhof. Plötzlich war all deine Energie und Zuversicht weg, und es war als würdest du dich wieder in dein Schneckenhaus zurückziehen.“ Henning machte eine kleine Pause. „Du hast mir damals geholfen. Wir haben UNS immer geholfen! Jetzt reagiere nicht mit Schweigen, sondern bitte erzähl mir, was anders, was mit dir los ist.“

Viktor wartete, bis die Bedienung den Kaffee abgestellt hatte und wieder gegangen war.
„Ich vermisse Nathalie. Ständig. Das ist das eine. Doch dann passierte etwas, was ich nicht einzuordnen wusste.“ Es entstand eine längere Pause und Henning wartete.

„Im Oktober zog bei mir gegenüber jemand Neues ein. Eine Dame“, erklärte Viktor und registrierte wachsendes Interesse bei seinem Neffen. „Ich habe sie immer mal gesehen, wenn sie kam oder ging. Irgendetwas an ihr zieht mich an.“ Wieder herrschte einen Moment Stille.
„Vielleicht ist es, seitdem ich sie lächeln gesehen habe, als ich ihr unten die Tür aufhielt. Du glaubst nicht, wie schön ihr Lächeln ist. Oder ihr Duft! Es ist kein Parfum. Es ist einfach sie. Und wie sie geht, sich bewegt … Vielleicht ist es aber auch, seitdem ich ihre Stimme gehört habe. Sie hatte sich fürs Türaufhalten bedankt …“

Sein Onkel schien in Gedanken weit weg zu sein. Henning wurde die Pause zu lang.
„Ja, und dann? Habt ihr euch mal getroffen, miteinander mehr gesprochen? Wie heißt sie denn?“
„Gesprochen? Ha!“ Viktors Stimme klang resigniert. „Ich glaube, Sie beachtet mich gar nicht. Und wie sie heißt? Gut, ihr Nachname steht auf dem Klingelschild, aber ich weiß nicht, wie sie sonst heißt!“
Viktor wurde beinahe wütend.
„Irgendetwas mit H vorne“, stieß er hervor. „Es steht jedenfalls H. Johansson an Türklingel und Briefkasten.“
Er stockte, schaute seinen Neffen an und gestand: „Ich stehe manchmal eine halbe Stunde am Küchenfenster, nur weil ich hoffe, dass sie gerade kommt oder geht und ich sie dann sehe …“

Henning erkannte, dass sein Onkel sichtlich unter der Situation litt. Er schwenkte erst einmal zum zweiten Gesprächspunkt der geplanten Unterhaltung über.
„Mir fällt natürlich auf, dass du speziell seit deinem Sturz besonders niedergeschlagen bist. Klar, Unfall, Schrecken, Verletzung  – doch, rein körperlich gesehen, warst du hart im Nehmen. Von jeher! Dir machen doch Schmerzen dieser Art sonst nichts! Du bist derjenige, der beim Zahnarzt keine Betäubung will, Schmerztabletten überflüssig findet, möglichst alles so heilen lässt und der mit verstauchtem Handgelenk noch Schlagsahne schlägt. Mit dem Schneebesen!
Trotz allem geht es dir mies. Ich sehe das doch! Wenn nicht die Nachwirkungen des Unfalls, was ist die Ursache? Was macht dir wirklich so zu schaffen?“

„Henning, du bist echt penetrant …“, seufzte Viktor. „Das war Nathalie auch. Die hat auch nie lockergelassen. Auch wenn ich gar nicht wusste, wie mir war, wenn mein Kopf noch völlig durcheinander war – sie hat dafür gesorgt, dass sich alles wieder ordnet.“
Viktor schaute seinen Neffen an.
„Henning, meine Unsicherheit – und dann der Unfall obendrauf, das hat mich zurückgeworfen. Ich fing danach prompt wieder an, mich einzuigeln, traute mir gar nichts mehr zu, war zunehmend damit beschäftigt, mich selbst zu bemitleiden. Ich konnte nicht nach draußen, fühlte mich abgekapselt und allein. Wollte aber andererseits auch keinen um mich haben! Es tut mir leid, selbst deine Anrufe wurden mir zu viel!
Ich wollte keinem zur Last fallen! Ich wollte selbst mit mir vorankommen, konnte es aber nicht, und es ist so verdammt schwer, wenn jeder kleine Fortschritt gleichzeitig immer auch zwei Schritte zurück nach sich zu ziehen scheint.“
Viktor schluckte merklich und fuhr dann fort:
„Ich bin so hin- und hergerissen! Ich habe es so satt, allein zu leben und will trotzdem nicht, dass Nathalie meint, ich hätte sie vergessen. Ich möchte mehr raus, aber traue mich nicht. Ich weiß, da wohnt eine wunderbare Frau gegenüber, die offenbar auch alleine lebt, aber bringe es nicht übers Herz zu klingeln. Weißt du, es ist mir so wichtig mit ihr, dass ich panische Angst davor habe, mir einen Korb zu holen. Und den werde ich mir wohl holen, so wie die Lage aussieht. Was sollte sie an einem Jammerlappen wie mir mit aufgeschlagenem Schienbein und alberner Kontaktangst gut finden? Sag selbst, was hätte ich denn schon zu bieten!
Henning, so lange ich nicht versucht habe, bei ihr zu klingeln, kann ich mir wenigstens noch einbilden, sie würde mir aufmachen, mich freundlich anlächeln und zuhören.“

Der Ausbruch hatte Henning völlig überrascht. Mit seiner Vermutung, dass sein Onkel vor dem Unfall jemanden kennengelernt hatte, hatte er also ins Schwarze getroffen, aber dabei nicht die leiseste Ahnung gehabt, in welch komplizierter Situation sich Viktor befand. Sich nach eigener Auffassung zu befinden glaubte! Er musste ihm unbedingt etwas klarmachen.

„Viktor, Nathalie war nie ein Mensch, der gewollt hätte, dass du einsam bist. Und du hättest umgekehrt auch nicht gewollt, dass Nathalie ewig allein geblieben wäre. Sie kann nicht mehr bei dir sein, nicht leibhaftig, aber sie ist es in deiner Erinnerung. Das wird sie doch auch bleiben! Du weißt, wie schwer es ist, Erinnerungen loszuwerden. Bei schlechten, die kein Mensch braucht, ist es schon fast unmöglich! Die Guten wirst du überhaupt nicht los, wenn du es nicht selbst unter Aufbietung aller erdenklichen Kräfte versuchst! Und wer würde das jemals tun …
Mein Vater Konstantin ist jetzt über zehn Jahre nicht mehr bei uns, du hast damals seine Stelle eingenommen. Habe ich ihn deshalb vergessen, oder ist er deshalb nicht mehr mein Papa? Nein! Meinst du, darüber, dass sein Bruder mich wie einen Sohn behandelt, wäre er jemals böse gewesen und hätte es missbilligt? Nein! Und genauso ist das mit Nathalie. Sie wäre an deinem Wohlergehen interessiert und würde dich glücklich sehen wollen.“
Henning fuhr fort: „Das ist das eine. Das andere ist, dir fällt nach Jahren ein Mensch auf, zu dem es dich hinzieht. Ein Wesen, das ganz offensichtlich auch allein lebt. Viktor, du kannst aber nicht davon ausgehen, dass deine Nachbarin von allein weiß, dass du sie magst! Wenn du herummuffelst, dich in deiner Wohnung verkriechst – wie soll sie dich dann wahrnehmen und näher kennenlernen? Du gibst ihr doch gar keine Chance!
Du sagst, sie hat dich angelächelt, als du ihr die Tür aufgehalten hast. Sicher, das ist kein Liebesbeweis, doch wenn sie dich ätzend gefunden hätte, wäre sie ohne jegliche Reaktion weitergegangen. Lade sie doch einmal – so von Nachbar zu Nachbar und weil sie neu im Haus ist – auf einen Kaffee ein! Oder mehrere Nachbarn, und dann widmest du dich halt nur ihr!“

Viktor starrte seinen Neffen an. Seine Gesichtszüge entgleisten, und er lachte schallend los.
„Du Spinner, stell dir vor, ich würde die Geskens von unten rechts beim Kaffee komplett links liegen lassen und sagen, sie sollen sich gut amüsieren, während ich mich der Schmetterlinge im Bauch verursachenden H. Johansson widme.“

Henning stimmte in das Lachen mit ein. Er kannte die Nachbarn aus dem Erdgeschoss und ihre klammernde, besitzergreifende Art.
„Dann lad mich mit ein“, erwiderte Henning, „ich kümmere mich um die Herrschaften von unten, und du hast freie Bahn.“
Viktor sah Henning verschwörerisch an.
„Du, das überlege ich mir wirklich. Ich muss mich dazu erst noch durchringen, das ist schon eine große Überwindung für mich, aber ich überlege es mir.“ Etwas abwesend fügte er hinzu: „Ich glaube, das muss gut geplant werden.“

Ihre Kaffeetassen waren inzwischen ausgetrunken. Sie zahlten und Henning fuhr Viktor heim. Dieser war sehr still geworden, doch die Stimmung war eine andere, bessere, als zuvor auf der Hinfahrt zum Café. Sein Onkel schien nun eher damit beschäftigt, Pläne zu schmieden.

Eine Woche später hatte Henning eine Einladung im Briefkasten. Einen Briefumschlag mit einem wilden, struppigen Küken vorne neben seiner Anschrift. Handgezeichnet.
Ein gutes Zeichen! Sein Onkel malte nur, wenn es ihm gut ging.
Viktor lud ihn zum Osterkaffeetrinken bei sich zu Hause ein. Am Ostersonntag um 15.30 Uhr. Henning musste grinsen, als er eine Textstelle las: … und überlege dir schon mal, wie du die Geskens von unten ablenkst!
Er bestätigte seinem Onkel schnell sein Kommen in einer Nachricht.

Am Ostersonntagmorgen saß Henning im Räuberlook und mit noch ungekämmten Haaren am Frühstückstisch, als sein Handy klingelte. Die Nummer seines Onkels leuchtete im Display auf. Er fluchte innerlich. Hoffentlich hatte Viktor nicht im letzten Moment der Mut verlassen. Nicht, dass er alles wieder abblies!
Er meldete sich mit den Worten: „Also ich komme auf jeden Fall!“
Eine warme Frauenstimme erklang aus dem Hörer: „Spreche ich mit Henning Hegermann?“
Henning war bass erstaunt, doch antwortete automatisch: „Ja …, wer ist denn da bitte?“
Inzwischen wich die Verblüffung und Angst machte sich breit. Wieso war sein Onkel nicht am Handy, warum hatte eine fremde Person Zugang zu seinem Telefon?
„Hier spricht Helen Johansson. Ich bin eine Nachbarin ihres Onkels. Ich wollte Sie fragen, ob es Ihnen möglich ist, etwas eher zu ihrem Onkel zu kommen, wir haben da ein kleines Problem.“
Problem? Oh, Gott, er hatte es gewusst! Irgendetwas war passiert!
Nach und nach kam der gesamte Satzinhalt bei ihm an und wurde verarbeitet. Moment, wer war am anderen Ende? Helen Johannsson, eine Nachbarin. DIE Nachbarin!?

„Hallo“, erklang verunsichert die weibliche Stimme aus dem Hörer an sein Ohr, „sind Sie noch dran?“
Er nickte. Verdammt, die Stimme konnte einen einlullen. Aber Helen Johansson konnte ihn nicht sehen, er musste ihr schon antworten.
„Ja, ich bin noch dran. Bitte, was ist denn los? Ist etwas passiert? Wie geht es meinem Onkel?“

„Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ich erkläre Ihnen alles. Ihr Onkel hat gestern erschreckend blass ausgesehen, als wir uns im Hausflur trafen, da habe ich ihn erst einmal zu mir hereingebeten, ihn in einen Sessel verfrachtet und habe uns Kaffee gekocht. Seine Farbe kehrte zwar bald zurück, doch wir haben noch lange zusammengesessen. Er hat von Ihnen erzählt, und wir sprachen davon, dass wir uns heute alle treffen würden. Ihr Onkel erzählte mir, er müsste noch ein paar Vorkehrungen treffen.
Heute früh nun, als ich vorhin von einem kleinen Spaziergang heimkam, hörte ich merkwürdige Geräusche aus seiner Wohnung. Es knallte heftig und ab und zu stöhnte jemand. Das Stöhnen speziell bereitete mir Sorge, also klingelte ich bei ihm. Ich war sehr erleichtert, als er öffnete, aber es war wieder so blass! Und kurzatmig! Das ist er sogar jetzt noch. Darum gab er mir das Telefon, um Sie anzurufen und quasi in seinem Namen zu sprechen.“

„Aber warum …? Blass … wieso …?“ Henning konnte keinen klaren Satz hinbekommen.
Helen schien ihn auch so zu wissen, was er meinte.

„Sie werden es gleich verstehen. Henning, er wollte Sie überraschen! Er sagte, Sie wären kein großer Ostereierfreund, weil Ihnen ständig die mühsam ausgeblasenen und sorgsam angemalten Kunstwerke kaputtgegangen wären, die Sie aufhängen wollten. Er erzählte, Sie fanden es früher daher immer so wunderschön, wenn er zusammen mit Ihnen und Ihrer verstorbenen Tante stattdessen an Ostern ersatzweise unzählige bunte Luftballons aufgehängt hätte. Er meinte, Sie hätten es seit Nathalies Tod nicht mehr getan. Er wollte Ihnen eine Freude bereiten und betonte, dass Sie etwas bei ihm guthätten.
Als ich klingelte, war er gerade dabei, den zwanzigsten Luftballon aufzupusten. Zu pusten! Nicht zu pumpen. Wohlgemerkt den zwanzigsten, der noch da und noch ganz war! Das Knallen hatten die erzeugt, die – kaum fertig – platzten. Bei denen hatte er sich natürlich auch schon die Lunge aus dem Leib geblasen.
Ihm sei schwindlig, verriet er, er würde schwarz sehen … Ich habe ihm erklärt, wenn er so weitermache, würde er kollabieren, Ostern im Krankenhaus verbringen und habe ihm gedroht, dass ich mich mit so einem Typen auch nicht weiter treffen würde, was ich sonst vorgehabt hätte. Das hat gesessen. Nur, jetzt möchte er, dass Sie die restlichen fünfzehn selbst aufpusten …“
Sie zögerte einen kleinen Moment, bevor Sie mit der Bitte herausrückte.
„Wäre das möglich? Könnten Sie bitte schon um 15 Uhr kommen?“

Viktor staunte. Nicht nur über die Geschichte mit den Luftballons, auch darüber, was sich seit gestern in Bezug auf Viktor Hegermann und Helen Johansson offenbar getan hatte. Es sah eindeutig nicht so aus, als hätte sie vor, seinem Onkel einen Korb zu geben.
Ihm fiel wieder siedend heiß ein, dass man am Telefon nicht schweigen sollte, wenn jemand am anderen Ende auf Antwort wartete. Er räusperte sich:
„Frau Johansson, Sie sind eine Wucht. Ich komme selbstverständlich eher! Sagen Sie meinem Onkel, er sei auch eine Wucht, aber soll die Finger von den Ballons lassen!“
„Ihr Onkel winkt mir gerade zu. Er kann wieder sprechen. Ich gebe ihn einmal an Sie weiter. Ich freue mich darauf, Sie nachher kennenzulernen, Henning! Und ich bin Helen, ja?“
Sie gab Viktor den Hörer. Zuerst war da nur Stille im Wechsel mit einem leichten Keuchen. Auf einmal erklangen zwei Worte:
„Henning …, danke.“ Klick.
Viktor hatte aufgelegt. Einfach so.

Da Henning nur noch das Freizeichen in der Leitung hörte, stellte er sein Handy aus. Er holte Luft, fuhr sich mit den Händen durch die verwuschelten Haare, und einen kleinen, wirklich nur einen klitzekleinen Moment sann er darüber nach, ob die Sache mit den Luftballons vielleicht bewusst geplant war. Ob sein Onkel die Erschöpfung nach dem Aufpusten bewusst herausgefordert hatte … Nein, sicher nicht …
Obwohl – wenn Viktor bewusst war, wie hinreißend hilfebedürftig, rührend und unwiderstehlich er so blass wirkte, dann war ihm auch klar, welchen Vorteil es für ihn hatte, wenn er an Ostern schwarz sah …

Henning schmunzelte noch, als er schon längst auf dem Weg hinüber zum Osterkaffee war.
.
.
.

©by Michèle Legrand, April 2014 (Neufassung 2021)
Michèle Legrand - Michèle. Gedanken(sprünge) @wordpress.com

, , , , , , , , , , ,

  1. #1 von kowkla123 am 19/04/2014 - 11:11

    Liebe Lady, ich wünsche frohe Ostern, Klaus

    Like

    • #2 von ladyfromhamburg am 19/04/2014 - 21:21

      Danke schön, Klaus, das wünsche ich dir und den Deinen natürlich auch!

      LG Michèle

      Like

  2. #3 von absengeralois am 19/04/2014 - 17:52

    Hallo,wuensch dir frohe Ostern,Alois

    Like

    • #4 von ladyfromhamburg am 19/04/2014 - 21:20

      Vielen Dank, Alois! Auch dir und deiner Familie recht frohe Ostern!

      LG Michèle

      Like

  3. #5 von marliesgierls am 19/04/2014 - 18:28

    Danke Michèle, diene Geschichte habe ich mir für den Schluss aufgehoben,sozusagen das Sahnehäubchen. Das war gut so, kein Fernsehen heute abend, nur noch die Badewanne, dazu die Geschichte im Kopf, das ist sehr schön. Ich wünsche dir einen schönen Ostersamstag-Abend Osterfeuer? Bei uns ist es Sonntag, aber ich gehe da nicht hin. lg Marlies

    Like

    • #6 von ladyfromhamburg am 19/04/2014 - 21:28

      Marlies, bei uns sind natürlich viele Möglichkeiten, heute Osterfeuer zu besuchen (von klein in der Nähe bis groß an der Elbe, aber ich bin auch daheim geblieben.
      Es freut mich, dass du dir die Geschichte aufgehoben hast! Gerade eben kam ich dazu, meinerseits Blogposts zu lesen (musste richtig aufholen) und hatte u. a. von dir deinen schönen Garten-Blogpost mit dabei. Den habe ich sehr genossen!
      Auch für dich und deine Mannschaft (Mann, Sohn, alle Haustiere und wer sonst noch dazu gehört ^^) weiterhin eine schöne Osterzeit!

      Liebe Grüße
      Michèle

      Like

      • #7 von marliesgierls am 20/04/2014 - 09:20

        Die Mannschaft dankt! Wir machen es ganz gemütlich bei dem schönen Wetter, Reiten, Garten, Kuchen essen…..Frohe Ostern! lg Marlies

        Like

  4. #8 von twilight am 19/04/2014 - 20:10

    Ich habe die Geschichte zweimal gelesen. War beim ersten mal wohl etwas zu oberflächlich. Schrift groß gestellt und dann noch einmal in aller „Ruhe und Gemütlichkeit“.
    Vielen Dank! Hat Spaß gemacht, sie zu lesen und die eigenen Gedanken treiben zu lassen. So muss es sein!
    Frohe Ostern Dir und allen Deinen Lesern!

    Like

    • #9 von ladyfromhamburg am 19/04/2014 - 21:19

      Das freut mich sehr von dir zu hören, Rainer!
      Und ich wünsche auch dir und deiner Familie weiterhin eine frohe Osterzeit!

      LG Michèle

      Like

Kommentar verfassen (Hinweise zur Prüfung von Spam-Kommentaren und Speicherung der IP-Adresse: siehe Datenschutzerklärung)

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..